Die Nacht der Wölfe
gestern Nacht war? Das war Alex, das war er ganz bestimmt. Er wollte uns sagen, dass er an uns denkt.« Sie schniefte leise. »So, und jetzt suche ich nach dem Indianer. Solange ich nicht mit eigenen Augen gesehen habe, wie Alex gestorben ist, finde ich keine Ruhe. Viel bezahlen kann ich ihm nicht mehr, aber wenn ich Glück habe, gibt er sich mit zwei oder drei Goldkörnern zufrieden. Ich bin gleich zurück. Seid brav, hört ihr?«
Auch als Alex noch am Leben gewesen war, hatte sie oft mit den Huskys gesprochen. Sie waren gute Freunde für sie, enge Vertraute, bei denen man auch seinen größten Kummer abladen konnte, ohne dass sich einer beschwerte. So wie fast jeder Cowboy mit seinem Pferd sprach. Menschen, die in der Wildnis oder auf dem Land lebten, hatten ein viel engeres Verhältnis zu Tieren als Städter, das war ihr schon als Kind aufgefallen, wenn sie zu ihrem Onkel auf die Ranch gefahren war. Dort gehörten Tiere zum täglichen Leben.
»Mrs Carmack! Haben Sie kurz Zeit, Mrs Carmack?«
Sie drehte sich um und sah den Doktor aus seinem Haus treten. Doc Boone trug einen offenen Mantel, der den Blick auf seine trotz der Hosenträger schlecht sitzende Hose freigab, und hatte weder Mütze noch Handschuhe dabei. Anscheinend hatte er sein Haus nur verlassen, um mit ihr zu sprechen.
»Mrs Carmack.« Selbst bei der geringen Entfernung, die er zurückgelegt hatte, wirkte er ein wenig atemlos. »Mrs Carmack! Der Marshal hat mir erzählt, was mit Ihrem Mann passiert ist. Mein herzliches Beileid! Schrecklich, so ein plötzlicher Unglücksfall. Wenn Sie Hilfe brauchen, Mrs Carmack …«
»Vielen Dank, Doc. Ich komme zurecht.«
»Haben Sie zufällig Schwester Betty-Sue gesehen?«
Clarissa, erstaunt über den plötzlichen Themenwechsel, blickte ihn verwundert an. »Schwester Betty-Sue? Nein … ich wollte nachher noch bei ihr vorbeischauen.« Sie bemerkte, wie besorgt der Doktor war. »Was ist mit ihr?«
»Sie ist verschwunden.«
»Verschwunden? Wohin denn?«
»Wenn ich das nur wüsste.« Er schlug den Mantelkragen hoch und steckte seine frierenden Hände in die Manteltaschen. »Ich hatte gehofft, sie wäre vielleicht bei Ihnen. Meine Frau hat gehört, wie sie aufgestanden ist. Um kurz nach Mitternacht. Irgendjemand hat sie mit dem Hundeschlitten abgeholt. Keine Ahnung, wer das war. Wir dachten eigentlich, Sie wären es gewesen …«
»Mitten in der Nacht?« Clarissa schüttelte den Kopf. »Wenn es so wäre, hätte sie Ihnen doch Bescheid gesagt. Und ich wäre bestimmt nicht nachts gekommen. Vielleicht gab’s einen Notfall in einem der abgelegenen Dörfer.«
»Dann hätte man doch mich geweckt.«
»Nicht unbedingt.« Clarissa hatte bereits einen Verdacht, verriet ihn aber nicht. »Manche Goldsucher lassen lieber eine Frau an sich ran, und die Indianer haben auch großes Vertrauen zu ihr. Es ging sicher um die kleine Louise … das Indianermädchen, dem sie die Kugel rausoperiert hat. Ich nehme an, sie hat nach ihr gefragt. Ich könnte in dem Dorf vorbeifahren …«
»Würden Sie das für mich tun?«
»Für Sie … und für Betty-Sue«, erwiderte Clarissa. »Aber nur, wenn Sie ihr keine Vorwürfe machen. Sie ist eine gute Krankenschwester. Sie hätten sehen sollen, wie sie die Kugel aus dem Mädchen geholt hat. Abgemacht, Doc?«
Er grinste schwach. »Meinetwegen.«
Clarissa schüttelte ihm die Hand und machte sich auf den Weg. Unter den Blicken einiger Neugieriger, die vom Tod ihres Mannes gehört hatten und ihr wenigstens zuwinken wollten, fuhr sie aus der Stadt. Sie hatte kaum Augen für die Leute, war nur damit beschäftigt, ihre Hunde anzutreiben und im Schnee der aufgewühlten Hauptstraße nicht zu sehr ins Schlingern zu geraten.
Über die Böschung lenkte sie ihr Gespann auf den Chena River hinab. Tief in den Knien brachte sie den Schlitten über das aufgeworfene Eis am Ufer hinweg und lenkte ihn auf den Trail. Das leichte Schlingern glich sie durch eine geschickte Gewichtsverlagerung aus. »Heya! Heya! Lauft! Lauft!«, trieb sie die Hunde an, froh darüber, die Stadt endlich hinter sich lassen zu können.
Sie glaubte nicht, dass Betty-Sue zu der kleinen Louise gefahren war, steuerte aber vorsichtshalber das Dorf an und erreichte es am späten Abend. Am Himmel waren einige Wolken aufgezogen, und es schneite leicht, aber am fernen Horizont war immer noch das Nordlicht zu sehen, wie es flackernd und knisternd über den Himmel wanderte. Dunkel und unheilvoll hoben sich die Berge der White Mountains
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