Die Nacht der Wölfe
machen. Außer dem Vorratssack unter der Haltestange und ein paar Decken auf der Ladefläche gab es keine Lasten, die ihrer Zugkraft im Weg gewesen wären. »So gefallt ihr mir, Emmett! Nur weiter so!« Schon eine knappe Viertelstunde später hatten sie die Senke durchquert und ließen den hügeligen Trail hinter sich, tauchten in den schützenden Wald auf der anderen Seite. Sofort verstummte der Wind und ließ eine bedrückende Stille zurück.
Die Stunden dehnten sich, besonders auf den ruhigen Abschnitten des Trails, die ihr genug Zeit zum Nachdenken ließen. Sobald sie für einen Moment die Augen schloss, wie sie es öfter auf langen Strecken tat, stiegen schreckliche Bilder vor ihr auf, wie Alex, von einer schrecklichen Krankheit getrieben, in die Berge fuhr und laut den Namen von Frank Whittler rief, immer wieder, bis der Verbrecher aus seiner Deckung auftauchte und mit seinem Gewehr auf ihn anlegte. Wie sich die Kugel löste und ihren Mann am Kopf traf, und wie er lächelnd in die Felsspalte stürzte, zufrieden, ihr nicht zur Last zu fallen und der quälenden Krankheit entkommen zu sein.
In den Ausläufern der Alaska Range, die bis in die Täler zum Trail hinunterreichten, war ihre Aufmerksamkeit gefragt, und sie war wieder so beschäftigt, dass ihr keine Zeit für andere Gedanken blieb. Sie war froh darüber und konzentrierte sich mit jeder Faser ihres Körpers auf die anstrengende Fahrt und lenkte den Schlitten zielsicher nach Süden. Stürmischer Wind, der von den vereisten Hängen des Mount McKinley herunterwehte, begleitete sie auf den letzten Meilen zum Susitna River, an dessen Ufer sich die gleichnamige Siedlung erhob. Im Schatten der Fichten, die östlich vom Trail wuchsen, war es stockfinster, und hätten in einigen der weit verstreuten Blockhäuser nicht Lampen gebrannt, wäre sie wohl an Susitna vorbeigefahren, so klein war die Siedlung.
Es gab keine Hauptstraße, lediglich einen schmalen Trail, der sich von einer Blockhütte zur nächsten wand und sich dahinter im Unterholz verlor. Zahlreiche Huskys begrüßten sie mit einem vielstimmigen Heulkonzert, als sie dem gewundenen Pfad folgte und neugierige Gesichter in den Fenstern auftauchen sah. Die Blockhütte von Doktor Candleberry erhob sich auf einer Lichtung und war an dem Schild über der Tür zu erkennen, das glücklicherweise dem Mondlicht zugewandt und deutlich zu lesen war: Dr. John F. Candleberry, MD. Durch ein Fenster war flackerndes Licht zu erkennen.
Sie bremste den Schlitten und rammte den Anker in den Boden, bedankte sich bei ihren Hunden, indem sie allen einen freundschaftlichen Klaps gab und Emmett zwischen den Ohren kraulte, und ging zur Tür. Noch bevor sie klopfen konnte, schwang sie nach innen, und sie hörte Dr. Candleberry sagen: »Ja? Womit kann ich Ihnen helfen?«
24
Dr. John F. Candleberry war ein ansehnlicher Mann, auch in seinem gemusterten Morgenmantel, um die Vierzig und groß gewachsen, markantes Gesicht mit sanften braunen Augen, vollen Lippen und strahlend weißen Zähnen. Die Haare waren auch am späten Abend noch sauber gescheitelt und nach hinten gekämmt, ein Mann, wie ihn sich die meisten Frauen wünschten. Er schien sich seiner Wirkung voll bewusst zu sein und lächelte nachsichtig, als er sagte: »Eigentlich ist es schon ein wenig spät für einen Krankenbesuch.«
»Ich bin Clarissa Carmack, die Witwe von Alex Carmack, und würde gern wissen, warum mein Mann bei Ihnen war«, hielt sie sich nicht mit Vorreden auf. »Darf ich reinkommen, Doktor? Ich bin seit Stunden unterwegs.«
»Mit dem Hundeschlitten? Sie ganz allein?«
Wieder so ein arroganter Kerl, der nicht glauben wollte, dass eine Frau genauso gut einen Hundeschlitten steuern konnte wie ein Mann. »Ich würde gern reinkommen und Ihnen einige Fragen stellen, Doktor.« Nach der langen Fahrt war sie nicht in der Stimmung, sich über irgendetwas anderes zu unterhalten. »Oder wollen Sie mich hier draußen in der Kälte stehen lassen?«
Der Doktor erinnerte sich an seine Kinderstube. »Natürlich nicht, Ma’am. Treten Sie bitte ein!« Er zog die Tür auf. »Meine Hilfskraft ist leider schon nach Hause gegangen, aber ich habe noch heißen Tee auf dem Herd stehen.«
»Sehr freundlich von Ihnen, Doktor Candleberry.«
Der Doktor führte sie in sein Wohnzimmer und bat sie, in einem der schweren Ledersessel zu warten. Während er den Tee und einige Kekse aus der Küche holte, setzte sie sich auf den Sesselrand und blickte sich um. Für eine Hütte abseits
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