Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Nacht der Wölfe

Die Nacht der Wölfe

Titel: Die Nacht der Wölfe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christopher Ross
Vom Netzwerk:
ernsthafter Besorgnis gewichen. »Mach dir keine Sorgen, Clarissa! Willst du mir sagen, was dich plötzlich so umtreibt?«
    »Später, Dolly. Ich muss sofort los.«
    »Dann drück ich dir die Daumen, Clarissa! Pass auf dich auf!«
    Wenige Minuten später war Clarissa unterwegs. Sie trieb ihre Huskys auf den Trail nach Süden und feuerte sie laustark an: »Giddy-up! Go! Go! Wir haben eine lange Fahrt vor uns. Ihr seid doch von dem Rennen nicht müde?«
    Emmett besaß einen ausgeprägten Instinkt und schien zu merken, dass Clarissa sie diesmal nicht aus Vergnügen antrieb, sondern von ernsthafter Sorge geplagt wurde. Selbst in der eisigen Luft, die sie im lichten Wald außerhalb der Stadt erwartete, witterte er ihren Angstschweiß und den beschleunigten Atem, der ihre panische Angst verriet. Beides Warnsignale für ihn, die ihn noch schneller und kraftvoller als sonst laufen ließen. Mit weiten Sprüngen hetzte er über den von mehreren Mushern festgestampften Schnee, bis Clarissa klar wurde, dass mindestens sechs Stunden vor ihr lagen und sie dieses Tempo niemals durchhalten würden. »Easy, Emmett!«, rief sie ihrem Leithund zu. »Wir haben einen langen Weg vor uns!«
    Als hätten sie die Hunde verstanden, fielen sie schon bald in einen rhythmischen Trott, so wie ihn jeder erfahrene Husky auf einer langen Strecke einschlug, und damit schneller vorankam, als wenn er nach kraftvollen Spurts längere Zeit ausruhen müsste und auf diese Weise wertvolle Zeit verlor. Ihr Atem gefror in der kalten Luft und vermischte sich mit dem feuchten Nebel, der aus den Niederungen des gefrorenen Tanana River heraufzog. Durch die entlaubten Baumkronen schimmerte das letzte Tageslicht und bildete dunkelrote Schatten auf dem verharschten Schnee. Noch war es hell genug, aber bald würde die Sonne endgültig untergehen, und sie wäre auf das Licht des halben Mondes und der Sterne angewiesen, die dann am Himmel erschienen.
    Nach zwei Stunden legte sie die erste kurze Pause ein. Sie befand sich am Waldrand, noch im Schutz der Bäume, aber vor einer weiten Senke, die dem eisigen Nordwind ausgesetzt war und ihr und den Hunden zu schaffen machen würde. Der Wind war mit der einsetzenden Nacht wieder stärker geworden und fegte leise heulend über die vereisten Hügel. Ungefähr vierzig Meilen vor ihr, aber jetzt schon so riesig und gewaltig, als wäre dort die Welt zu Ende, ragten die mächtigen Gipfel der Alaska Range in den Himmel. Der Mount McKinley, wie sie inzwischen wusste, der höchste Berg von Nordamerika, thronte wie ein versteinerter König in einem faltigen weißen Mantel über allen anderen Gipfeln und glänzte im trüben Mondlicht. Clarissa war schon einige Male über diesen Trail gefahren, hatte den Berg aber noch nie so deutlich und klar gesehen. Meist lag er hinter dichten Wolken verborgen.
    Doch diesmal hatte sie kaum Augen für die Schönheiten der Natur. Ihr war nur daran gelegen, so schnell wie möglich den Doktor zu erreichen und das Geheimnis um ihren toten Mann zu lösen. Seine Erklärungen würden ihn nicht wieder lebendig machen, ihr aber zumindest den Grund dafür liefern, warum er in den Bergen ums Leben gekommen war. Bisher hatte sie ihn immer für unbesiegbar gehalten, für einen Helden, wie sie ihn aus ihren Buffalo-Bill-Heften kannte, stark, stolz und jeder Gefahr gewachsen. Für einen Mann, der sich wie kein anderer, die Indianer ausgenommen, in der Wildnis auskannte und eigentlich vorsichtig genug hätte sein müssen, um Frank Whittler und seinen Kumpanen nicht blindlings in die Falle zu laufen. »Alex!«, flüsterte sie gedankenverloren. »Warum hast du nicht mit mir gesprochen, wenn du Probleme hattest? Wir wollten doch gemeinsam durch Dick und Dünn gehen.«
    Am Himmel war kein Nordlicht, und auch in ihren Gedanken erhielt sie keine Antwort. Nur das leise Heulen des Windes war zu hören. Sie kramte einen Biskuit und ein Stück Käse aus ihrem Proviantbeutel, kaute darauf herum, ohne etwas zu schmecken, und zog ihren Schal über den Mund, bevor sie weiterfuhr. »Genug gefaulenzt!«, rief sie den Hunden zu. »Vorwärts! Weiter! Der Doktor hat es sicher nicht gern, wenn man ihn um Mitternacht aus dem Bett holt, also strengt euch gefälligst ein bisschen an! Lauft, ihr Lieben!«
    In einem langgezogenen Spurt setzten die Huskys über die Hügel hinweg. Clarissa musste sich anstrengen, den Schlitten in der Spur zu halten, und verlagerte gezielt ihr Gewicht, um ihrem Gespann die Arbeit so leicht wie möglich zu

Weitere Kostenlose Bücher