Die Nacht der Wölfe
nun ja …«
Clarissa grinste schadenfroh. »Keine Angst, ich wollte sowieso mal bei Betty-Sue vorbeischauen. Eine junge Krankenschwester. Ich hab sie zu den Goldgräber- und Indianerdörfern gefahren, und sie hat sich in einen stolzen Krieger verliebt. Nicht gerade das Klügste, was eine weiße Frau machen kann.«
»Hast du sie nicht gewarnt?«
»Mehrmals, aber was nützt das schon? Hättest du auf jemand gehört, wenn er dir von einer Hochzeit mit Luther abgeraten hätte, nur weil er Ire war?«
»Niemals!«
»Weil du eine sture Engländerin bist. Aber Betty-Sue arbeitet für den Civil Service. Wenn herauskommt, dass sie sich in einen Indianer verliebt hat, gibt es einen handfesten Skandal, und sie verliert sofort ihre Arbeit. Sie ist erst seit ein paar Wochen in Alaska und hat keine Ahnung, wie rau es hier zugehen kann.« Sie grinste schelmisch. »Aber keine Angst, ob sich eine vorlaute Engländerin mit einem irischen Hünen einlässt, ist den Leuten hier ziemlich egal. In einer Stunde im Saloon? Wenn du willst, bringe ich dir Beruhigungstropfen aus dem Krankenhaus mit. Falls Jerry dir einen Heiratsantrag macht oder die Männer dich mit einem aufgetakelten Saloon Girl verwechseln …«
»In dem Aufzug?« Dolly blickte an sich hinunter und musste beim Anblick der wollenen Hosen grinsen. »Und jetzt mach, dass du wegkommst!«
Im Krankenhaus brauchte Clarissa nicht lange nach Betty-Sue zu suchen. Sie stand vor einem Medizinschrank, sortierte Medikamente und hatte im Augenblick anscheinend wenig zu tun. In ihrer weißen Schwesternuniform wirkte sie wesentlich selbstsicherer als in dem Rock und der Bluse, die sie auf der Inspektionstour getragen hatte. Ihre Haare hatte sie zu einem strengen Knoten gebunden, wie es wohl Vorschrift für alle Krankenschwestern war.
»Clarissa!«, rief Betty-Sue erfreut. »Gut, dass du kommst! Wenn ich mit einem Hundegespann umgehen könnte, wäre ich schon längst zu dir rausgefahren. Ich muss unbedingt mit dir sprechen! Warte hier auf mich, okay?«
Sie verschwand in einem Nebenzimmer, sagte anscheinend dem Doktor, dass sie während ihrer Mittagspause außer Haus sein würde, und kehrte in Anorak und Stiefeln zu ihr zurück. Ihre weiße Haube hatte sie mit einer Pelzmütze vertauscht. »Lass uns ein wenig spazieren gehen«, schlug sie vor.
Clarissa spürte, dass Betty-Sue ihr etwas Wichtiges mitzuteilen hatte, und wartete, bis sie das Krankenhaus verlassen hatten. Nachdem sie einige Schritte gegangen waren, blieb sie stehen und sagte halb im Scherz, halb im Ernst: »Und jetzt sag mir bloß nicht, dass du Matthew heimlich geheiratet hast …«
Betty-Sue blieb ernst. »Es geht um deinen Mann, Clarissa.«
»Alex? Was ist mit ihm? Hat man seine … seine Leiche gefunden?«
Die Schwester schüttelte den Kopf. »Ich habe gestern Abend mit einem Patienten gesprochen. Ein Beinbruch. Kletterte betrunken auf einen Baum und stürzte aufs blanke Eis. Er kann froh sein, dass er sich nicht das Genick gebrochen hat. Manchmal benehmen sie sich wie Kinder, diese Männer. Doc Boone sagt, das liegt am langen Winter. Sie bekommen einen Hüttenkoller.«
»Was ist mit Alex?«, drängte Clarissa. »Nun sag doch endlich!«
»Der Mann mit dem gebrochenen Bein muss jeden Abend durch das Krankenhaus humpeln. Damit er sich an die Krücken gewöhnt, sagt der Doc. Ich stütze ihn dabei, damit er nicht wieder fällt, und höre seinen lockeren Reden zu. Du glaubst nicht, was diese Männer für Ausdrücke kennen. Er entschuldigt sich ständig dafür, aber dann flucht er doch wieder wie ein Kutscher …«
»Alex! Was hat er über Alex gesagt?«
Betty-Sue zog sie noch weiter vom Krankenhaus und dem Haus des Doktors weg. »Es war eigentlich nur ein Nebensatz«, erwiderte sie beinahe verschwörerisch. »Sein bester Freund würde Doc Boone nicht über den Weg trauen, seitdem er sich eine Hand gebrochen hätte und sie kaum noch bewegen könnte. Er war natürlich selbst schuld, aber das hätte er niemals zugegeben. Einen Monat später brach er sich den rechten Arm, nur ein paar Meilen von Fairbanks entfernt, aber er traute Doc Boone nicht mehr und fuhr lieber sechs Stunden mit seinem gebrochenen Arm durch die Wildnis und ließ sich von einem Wunderdoktor in Susitna behandeln, einem gewissen Doktor …«
»… Candleberry«, ergänzte Clarissa. »Doktor John F. Candleberry. Von dem hab ich schon gehört. Ein angesehener Chirurg aus Chicago, der die Stadt wegen irgendwelcher Frauengeschichten und einer Prügelei
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