Die Nacht der Wölfe
verlassen zu müssen. Sie griff nach ihrer Pelzmütze und dem Schal und stand auf. »Vielen Dank für die Auskunft, Doktor Candleberry. Ihre Mühe ist wohl in dem horrenden Honorar enthalten, das Sie von meinem Mann verlangt haben. Ich wusste gar nicht, dass Ärzte so teuer sein können.«
»Die Therapie war sehr aufwendig, Mrs Carmack«, entschuldigte er sich, »und glauben Sie nicht, dass ich die Medikamente umsonst bekomme.« Er führte Clarissa zur Tür. »Wollen Sie gleich wieder zurückfahren? Warum übernachten Sie nicht hier? Ich könnte Ihnen das Gästezimmer herrichten.«
Clarissa deutete ein Lächeln an. »Ich glaube kaum, dass Ihre Nachbarn das als schicklich ansehen würden. Und ich, ehrlich gesagt, auch nicht, Doktor.«
»Wie Sie meinen, Ma’am.« Auch Candleberry lächelte jetzt. »Dann kann ich Ihnen Will’s Roadhouse empfehlen, ungefähr zwei Meilen weiter südlich am Trail. Sagen Sie Will, dass ich Sie schicke, dann gibt er Ihnen Rabatt.«
»Vielen Dank, Doktor.«
Sie stieg auf den Schlitten und lenkte ihn auf den Trail zurück. Nachdenklich fuhr sie durch einen dichten Fichtenwald nach Süden. Durch die Baumkronen leuchtete das Nordlicht in allen Farben. »Warum hast du das getan?«, rief sie zum Himmel. »Warum hast du mir nicht gesagt, dass du krank bist? Hattest du so wenig Vertrauen zu mir? Du hättest zu dem Professor nach San Francisco gehen sollen, das Geld hätten wir schon irgendwie zusammengekratzt! Aber du musstest natürlich wieder den Rücksichtsvollen spielen!« Sie begann zu weinen und musste den Schlitten anhalten, weil sie sonst vom Trail abgekommen wäre. »Alex, verdammt! Der Professor hätte dich doch geheilt!«
Sie fuhr langsam weiter, sehr zur Verwunderung ihrer Huskys, die auf eine schnellere Gangart eingestellt waren und auf Kommandos warteten. Dennoch brauchten sie nur ein paar Minuten für die kurze Fahrt zu Will’s Roadhouse, einem zweistöckigen Blockhaus, wie es wohl Dolly im Sinn hatte, aber schon etwas baufällig und heruntergekommen. Vor dem Haus parkten zwei Hundeschlitten. Die Huskys empfingen sie mit lautem Gejaule, beruhigten sich aber, als Clarissa an ihnen vorbeifuhr und auf der anderen Seite hielt. »Lasst euch von den Heulern nicht aus der Ruhe bringen«, sagte sie zu ihren Hunden, »die können euch nichts anhaben.« Sie stieg vom Trittbrett und kraulte Emmett zwischen den Ohren. »Ich bin gleich zurück, okay?«
Sie betrat den Gastraum und blieb eine Weile stehen, nachdem sie die Tür hinter sich geschlossen hatte. Von den Mushern saß nur noch einer an dem langen Tisch, ein weißhaariger Fallensteller, der genüsslich an seiner Pfeife zog und anerkennend nickte, als sie ihre Mütze abnahm und sich ihre langen Haare lösten und auf die Schultern fielen. Der Wirt stand hinter dem Tresen und zapfte ein Glas Bier, das wohl für ihn selbst bestimmt war. »Ma’am?«
»Doktor Candleberry schickt mich«, eröffnete sie ihm. »Angeblich geben Sie mir die Schlafstelle billiger, wenn ich sage, das ich von ihm komme.«
»Einer hübschen Lady wie Ihnen gebe ich immer Rabatt«, antwortete er. Ihr Erscheinen schien ihn sichtlich aufzuheitern. »Sie haben den kleinen Schlafsaal im ersten Stock ganz für sich. Wenn Sie wollen, können Sie auch noch was von meinem Wildeintopf haben. Heißen Tee oder Kaffee, Ma’am?«
»Heißen Tee bitte … und Wasser für meine Hunde.«
Sie griff dankbar nach dem vollen Eimer, den er ihr reichte, und ging nach draußen. Ihre Huskys warteten bereits ungeduldig. Sie kramte die Futternäpfe aus dem Vorratssack, füllte sie mit getrocknetem Lachs und Reis und goss etwas Wasser hinzu, damit ihre Hunde genug Flüssigkeit aufnahmen. Während sie gierig fraßen, lief sie ein paar Schritte und blickte wehmütig über die Lichtung. Das Nordlicht war verblasst, und nur der bleiche Mond und die Sterne spiegelten sich auf dem gefrorenen Schnee, hoben ihn noch deutlicher von den dunklen Fichten ab, die wie eine schwarze Wand auf der anderen Seite der Lichtung emporragten. Dahinter erhoben sich die gewaltigen Massive der Alaska Range bis in den Himmel.
In Gedanken war sie noch immer bei der Antwort, die sie von Doktor Candleberry erhalten hatte, jener unglaublichen Nachricht, die Alex’ Tod noch geheimnisvoller und undurchsichtiger erscheinen ließ. War er tatsächlich mit offenen Augen in den Tod gefahren? Hatte er sein Schicksal herausgefordert, um ihr nicht zur Last fallen zu müssen? Und warum hatte er sich nicht auf eine Operation
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