Die Nacht der Wölfe
sie auf keinen Fall etwas zu tun haben wollte. »Ich höre, Doktor.«
Candleberry lehnte sich zurück und zog den Morgenmantel dichter vor seiner Brust zusammen. Er trank einen Schluck Tee und suchte eine Weile nach Worten, bevor er sagte: »Ihr Mann ist kürzlich verstorben, Mrs Carmack?«
»Verstorben? Er wurde angeschossen und fiel in eine Felsspalte!«
»Dann stimmt also, was mir kürzlich zu Ohren gekommen ist. Ein Händler aus Fairbanks erzählte mir von seinem tragischen Tod. Mein herzliches Beileid, Ma’am, ich hätte ihm einen würdigeren Tod gewünscht.« Er trank wieder von seinem Tee und vermied es, sie direkt anzublicken. »Aber ich will ehrlich sein, Ma’am. Seine Chancen auf ein langes Leben standen ohnehin nicht günstig. Er hatte eine … nun, er hatte eine Geschwulst im Kopf, ob bösartig oder nicht, konnte ich nicht feststellen, aber so gefährlich, dass ich leider nicht in der Lage war, sie operativ zu entfernen. Es hätte immer die Gefahr eines Blutgerinnsels im Gehirn bestanden, und dann wäre er entweder sofort gestorben oder … nun, er hätte seine geistigen Fähigkeiten verloren und wäre nur noch dahingesiecht. Ich habe es mit einer anderen, eher konservativen Methode versucht, aber damit keinen Erfolg gehabt. Die Schwellung ging nicht zurück. Der einzige Arzt, der sich an eine solche Operation wagen würde, ist Professor Dr. Joshua Norton in San Francisco, ein anerkannter Chirurg, der auch in Europa großes Ansehen genießt, aber die Behandlung bei ihm würde ein halbes Vermögen kosten. Ich habe Ihrem Mann empfohlen, es dennoch zu versuchen, auch wenn er dafür einen hohen Kredit aufnehmen müsste, aber er lehnte ab. Ich hatte den Eindruck, das Risiko war ihm zu groß, und er wollte Sie auf keinen Fall mit seiner Krankheit belasten. ›Einen schwachsinnigen Mann hat sie nicht verdient‹, sagte er bei seinem letzten Besuch.«
Clarissas Wut war verraucht, und sie hatte Tränen in den Augen. Der schreckliche Verdacht, der sie schon während der Fahrt gequält hatte, verstärkte sich noch. »Könnte es sein, dass Alex den Tod bewusst gesucht hat?«
»Gut möglich«, erwiderte Candleberry, »obwohl er nicht der Typ zu sein schien, der Selbstmord begeht. Aber ich hatte schon Patienten, die an einer solchen Nachricht zerbrachen und eine so große Angst vor den Schmerzen hatten, dass sie gar nicht mehr nach Hause gingen. Die Schmerzen bei einer Geschwulst im Kopf können unerträglich werden, wenn es auf das Ende zugeht. In Chicago hatten wir Patienten, die zwei, drei Tage ununterbrochen schrien, bis sie vom Tod erlöst wurden. Gegen einen solchen Schmerz gibt es keine wirkungsvollen Mittel. Glauben Sie mir … auch wenn der gewaltsame Tod Ihres Mannes schmerzhaft für Sie ist … er hat sich und Ihnen großes Leid erspart.« Er zögerte etwas. »Klagte Ihr Mann denn öfter über Kopfschmerzen?«
Sie brauchte einige Zeit, um die Worte des Doktors zu verarbeiten, und hakte noch einmal nach. »Jetzt, wo Sie’s sagen …«, antwortete sie dann. »Ja, er hatte öfter mal Kopfweh, vor allem, wenn das Wetter umschlug. Aber so geht es doch vielen Menschen. Wie hätten wir denn ahnen können, dass eine so … eine so ernsthafte Krankheit dahintersteckt.« Sie schniefte, griff nach dem Taschentuch, das der Doktor ihr reichte, und wischte sich die Tränen vom Gesicht. »Wie groß wären denn die Chancen bei einer Operation gewesen?«
»Ungefähr zwanzig Prozent, sagt Professor Norton. Er ist ein sehr bescheidener Mann und will seinen Patienten nicht zu viel Hoffnung machen. Ich weiß aber von mehreren Patienten, die nach der Operation wieder voll lebensfähig waren. Natürlich dauert es eine gewisse Zeit, manchmal sogar Jahre, bis sie wieder so unbeschwert leben können wie vorher, und natürlich müssen sie sich auch einmal jährlich untersuchen lassen. Es kann immer sein, dass sich Metastasen gebildet haben. So nennen wir die Ableger einer Geschwulst, die sich auch auf andere Organe ausbreiten können. Dann wird eine Operation fast unmöglich. Ich nehme an, Ihrem Mann war das alles zu riskant und vielleicht auch zu teuer. Tut mir leid, dass ich Ihnen keine andere Auskunft geben kann, aber jetzt … nun ja, jetzt spielt es ja auch keine Rolle mehr. Ich habe wirklich alles versucht, Mrs Carmack. Leider bin ich kein Wunderheiler.«
Clarissa trank einen Schluck Tee, merkte gar nicht, dass er nur noch lauwarm war, und hatte plötzlich das Gefühl, das Haus des Doktors so schnell wie möglich
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