Die Nacht der Wölfin
setzen und versuchen, ihn mit Lügen und Lächeln zu ködern, aber es würde Zeit kosten, und Zeit hatte ich nicht. Womit mir nur noch die neuen Mutts blieben. Bei ihnen war ich auf unvertrautem Gelände. Sie waren keine Werwölfe, rief ich mir ins Gedächtnis. Keine richtigen jedenfalls. Wie also versetzte ich mich in sie hinein?
Den größten Teil der Zeit lag ich auf dem Bett, starrte die Decke an und fühlte mich vollkommen machtlos angesichts der Unmöglichkeit, diese beiden zu verstehen. Dann fiel es mir ein. Sie waren keine Werwölfe, sie waren Menschen. Ich war ein Mensch gewesen. Ich versuchte immer noch, ein Mensch zu sein. Warum konnte ich mich nicht in sie hineinversetzen? Ich brauchte doch nichts weiter zu tun, als meine Wolfsnatur beiseite zu schieben – etwas, das ich ohnehin seit Jahren versucht hatte. Aber das war nicht alles, was vonnöten war, um diese Killer zu verstehen. Ich konnte nicht wieder zu dem Typ Mensch werden, der ich hatte sein wollen – ausgeglichen, passiv und liebevoll. Ich musste wieder werden, was ich zuvor gewesen war.
Jeder Schutzmechanismus, über den ich verfügte, wurde bei dem Gedanken hochgefahren. Werden, was ich gewesen war, bevor Clay mich gebissen hatte? Aber ich war doch ausgeglichen, passiv und liebevoll gewesen? Das jedenfalls wollte ich glauben, aber zugleich wusste ich, es war nicht wahr. Ich hatte immer die Anlage zur Gewalttätigkeit gehabt. Clay hatte das erkannt. Der kindliche Werwolf hatte das kindliche Opfer gesehen und eine Seelenverwandte gefunden, jemanden, der verstand, wie es war, entfremdet aufzuwachsen, während unser merkwürdiges Verhalten von den Erwachsenen beobachtet und von anderen Kindern verlacht wurde. Im Alter von sieben Jahren war Clay ein voll entwickelter Werwolf gewesen, mit einer eingebauten Wildheit und einem Temperament, das ihr entsprach. Im gleichen Alter hatte ich hassen gelernt, mein eigenes gewalttätiges Potenzial entwickelt, obwohl ich es besser verbergen konnte, es nach innen wandte und mich mühte, der Welt das passive kleine Mädchen zu zeigen, das sie zu sehen erwartete. Es wurde Zeit, dass ich mich damit auseinander setzte. Clay hatte mich nicht zu dem gemacht, was ich war. Er hatte mir nur ein Ventil für die Wut und den Hass gegeben. Ich musste dorthin zurückkehren, zurück zu dem Misstrauen und dem Hass und der Machtlosigkeit und der blinden Wut, vor allem der Wut auf all diejenigen, die mir Unrecht getan hatten. Dort würde ich das Hirn eines Killers finden, eines menschlichen Killers.
LeBlanc hasste Frauen. Vielleicht war er von seiner Mutter schlecht behandelt oder von den Mädchen in der Schule ausgelacht worden, oder vielleicht war auch einfach seine Selbstachtung so niedrig, dass er irgendeine Gruppe von Leuten brauchte, denen gegenüber er sich überlegen fühlen konnte. Wenn es die Selbstachtung war – damit konnte ich arbeiten. Aber um die Wahrheit herauszufinden, musste ich sein Leben recherchieren, irgendeinen Hinweis auf sein spezifisches Problem finden. Und auch hier galt, ich hatte nicht genug Zeit.
Und was war mit Victor Olson? Ich wollte ihn schon ohne einen weiteren Gedanken übergehen. Schließlich war ich dem Mann noch nie auch nur begegnet. Andererseits, war das nötig? Ich nahm die Ausdrucke der beiden Internetartikel über ihn aus der Kommodenschublade und studierte sie. Was sagten sie mir über Olson? Er war ein Stalker. Ein zwanghafter Stalker. In einem der Artikel stand, er habe zugegeben, dass er Nacht für Nacht ausging, um seine Opfer schlafen zu sehen: Der Anblick ihrer friedlich schlafenden Gesichter habe ihm geholfen, sich zu entspannen und seine eigene Schlaflosigkeit zu überwinden. Hatte es das zwanghafte Verhalten oder die Schlafstörungen kuriert, dass er zum Werwolf geworden war? Natürlich nicht. Mit anderen Worten, die Aussichten waren gut, dass Olson seine alten Verhaltensweisen nicht aufgegeben hatte, dass er immer noch kleine Mädchen im Schlaf beobachtete, hier in Bear Valley.
***
Ich hatte Stonehaven verlassen, um Olson zu finden. In den Artikeln hieß es, dass er sich seine Opfer in Mittelklassefamilien suchte. Ich ging davon aus, dass er nach einstöckigen Häusern gesucht hatte, bei denen er durch die Erdgeschossfenster sehen konnte. Bear Valley hatte nur zwei solche Viertel. Ich brauchte nichts weiter zu tun, als die Straßen abzufahren und ihn aufzuspüren.
Nachdem ich über eine Stunde lang herumgefahren war, begann mir aufzugehen, was ich mir da vorgenommen
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