Die Nacht des einsamen Träumers.
Gesetzes zu trennen? Habe ich es immer fertig gebracht, dass meine persönlichen Missstimmungen, meine Abneigungen, familiären Probleme, Schmerzen, seltenen Augenblicke des Glücks nicht das weiße Papier befleckten, auf dem ich ein Urteil abfasste? Ist mir das gelungen oder nicht?« Der Schweiß klebte Montalbano das Hemd auf die Haut.
»Verzeihen Sie, Signor Attard. Sie überprüfen nicht die Verfahren, die Sie geleitet haben, sondern Ihr eigenes Leben.«
Er begriff sofort, dass er einen Fehler gemacht hatte, das hätte er nicht sagen dürfen. Aber für einen Augenblick hatte er sich gefühlt wie ein Arzt, der bei einem Patienten eine schwere Krankheit festgestellt hat: Sollte er es ihm sagen oder nicht? Montalbano hatte sich spontan für erstere Vorgehensweise entschieden.
Der Richter sprang vom Stuhl auf. »Ich danke Ihnen, dass Sie gekommen sind. Gute Nacht.«
Am folgenden Morgen kam der Richter nicht vorbei. Und auch in den folgenden Tagen und Wochen tauchte er nicht auf. Aber der Commissario vergaß den Richter nicht. Als gut ein Monat nach der abendlichen Begegnung vergangen war, rief er Fazio zu sich.
»Erinnerst du dich an Attard, den pensionierten Richter?«
»Natürlich.«
»Ich will wissen, was mit ihm ist. Du hast doch seine Haushälterin kennen gelernt, wie hieß sie noch mal, weißt du das noch?«
»Prudenza heißt sie, Besonnenheit. Wie könnte ich so einen Namen vergessen?« Am Nachmittag kam Fazio zur Berichterstattung.
»Dem Richter geht's gut, er verlässt nur das Haus nicht mehr. Das Stockwerk über ihm wurde frei, und Prudenza hat gesagt, er hätte es gekauft. Jetzt gehört ihm das ganze Haus.«
»Hat er seine Unterlagen raufgetragen?«
»Von wegen! Prudenza hat gesagt, dass er es leer lassen will, er will es auch nicht vermieten. Er sagt, dass er allein in dem Haus bleiben will, er will keine Störung. Das heißt, Prudenza hat noch was gesagt, was ihr merkwürdig vorkam. Der Richter hat nicht direkt gesagt, dass er keine Störung, sondern dass er keine Gewissensbisse haben will. Was bedeutet das?«
Montalbano brauchte die ganze Nacht, um zu begreifen, dass der Richter sich nicht versprochen hatte, als er »Gewissensbisse« statt »Störung« sagte. Und als er sich darüber ihm Klaren war, brach ihm der kalte Schweiß aus. Als er ins Büro kam, fuhr er Fazio grob an.
»Ich will sofort die Telefonnummer des Sohnes von Richter Attard in Bozen!«
Eine halbe Stunde später konnte er mit dem Kinderarzt Dottor Giulio Attard sprechen.
»Hier ist Commissario Montalbano. Dottore, tut mir Leid, aber ich muss Ihnen mitteilen, dass der Geisteszustand Ihres Vaters...«
»Ist es schlimmer geworden? Das habe ich befürchtet.«
»Sie müssten sofort nach Vigàta. Kommen Sie zu mir. Dann können wir überlegen, was...«
»Commissario, vielen Dank, das ist sehr nett von Ihnen, aber ich kann wirklich nicht sofort kommen.«
»Ihr Vater bereitet seinen Selbstmord vor, wussten Sie das?«
»Ich würde das nicht dramatisieren.« Montalbano legte auf.
Als er am selben Abend am Haus des Richters vorbeifuhr, hielt er an, stieg aus und klingelte an der Sprechanlage. »Wer ist da?«
»Montalbano, Signor Attard. Ich wollte nur auf einen Sprung vorbeikommen.«
»Ich würde Sie gern hereinbitten. Aber es ist zu unordentlich. Kommen Sie doch morgen, wenn das geht.« Der Commissario hatte sich schon ein paar Schritte entfernt, als er seinen Namen rufen hörte.
»Montalbano! Dottore! Sind Sie noch da?« Er rannte zurück.
»Ja, bitte?«
»Ich glaube, ich bin fündig geworden.« Sonst sagte er nichts. Der Commissario klingelte, er klingelte lange, aber es meldete sich niemand mehr.
Das anhaltende Sirenengeheul der Feuerwehrautos, die Richtung Vigàta rasten, weckte ihn auf. Er sah auf den Wecker: vier Uhr morgens. Er hatte ein ungutes Gefühl. So wie er war, in der Unterhose, ging er bei der Veranda hinaus und hinunter ans Meer, von wo aus er eine bessere Sicht hatte. Das Wasser war so eiskalt, dass seine Füße schmerzten. Aber der Commissario nahm das gar nicht als unangenehm wahr: Er beobachtete von fern das Haus des ehemaligen Richters Leonardo Attard, das wie eine Fackel brannte. Kein Wunder bei all dem Papier, das darin war! Die Feuerwehrleute würden viel Zeit verlieren, bis sie die verkohlte Leiche des Richters fanden. Dessen war er sicher.
Zwei Tage darauf legte Fazio Montalbano einen dicken Packen, verschnürt
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