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Die Nacht des einsamen Träumers.

Die Nacht des einsamen Träumers.

Titel: Die Nacht des einsamen Träumers. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrea Camilleri
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entgegenzulaufen und ihn willkommen zu heißen. Er hielt sich zurück, aber er freute sich, dass er ihn wieder im feuchten Sand laufen sah, mit festem, gleichmäßigem Schritt.

      Als der Commissario dann eines Morgens Ende September auf der Veranda saß und Zeitung las, kam plötzlich ein Windstoß, der zweierlei bewirkte: Die Seiten der Zeitung wirbelten durcheinander, und der Hut des Richters flog auf die Veranda zu. Während Signor Leonardo Attard hinter dem Hut herrannte, ging Montalbano hinunter, hob ihn auf und reichte ihn dem Richter. Die Natur hatte sich eingeschaltet, damit sie Bekanntschaft schließen konnten. Denn es war unvermeidlich, natürlich, dass diese Begegnung früher oder später stattfinden würde.

    »Danke. Attard«, stellte sich der Richter vor.
      »Ich heiße Montalbano«, sagte der Commissario. Sie lächelten nicht, sie drückten einander nicht die Hand. Einen Augenblick lang sahen sie sich schweigend an. Dann machten beide eine komische kleine Verbeugung, wie die Japaner. Der Commissario kehrte auf die Veranda zurück, der Richter setzte seinen Spaziergang fort.

    Montalbano war einmal gefragt worden, welche Eigenschaft, welche wesentliche Begabung seiner Meinung nach einen Polizisten auszeichne. Die Gabe der Intuition? Beharrliches Nachforschen? Die Fähigkeit, Fakten, die scheinbar nichts miteinander zu tun haben, zu verknüpfen? Zu wissen, dass zwei plus zwei im normalen Lauf der Dinge zwar immer vier ist, dass in der Abnormität des Verbrechens zwei plus zwei aber auch fünf sein kann? »Der Blick eines Arztes«, hatte Montalbano geantwortet. Alle hatten sich schiefgelacht. Aber der Commissario hatte gar nicht witzig sein wollen. Nur hatte er seine Antwort nicht erklärt, er hatte nicht weiter darauf eingehen wollen, da unter den Anwesenden auch zwei Ärzte waren. Und der Commissario hatte mit dem »Blick eines Arztes« gemeint, dass die Ärzte früher eben sehen konnten, ob ein Patient krank war oder nicht. Ohne, wie viele Ärzte heutzutage, hundert verschiedene Untersuchungen an einem vorzunehmen, bevor sie feststellen, dass man kerngesund ist.

      Gut, schon bei dem kurzen Blick, den er mit dem Richter getauscht hatte, war Montalbano überzeugt, dass dieser Mann krank war. Natürlich nicht körperlich krank, es handelte sich um etwas, das ihn umtrieb, das seinen Blick zu fest werden ließ, zu starr, als sei er in einen immer wiederkehrenden Gedanken versunken. Wenn er recht überlegte, war es nur ein Eindruck, gewiss. Aber der zweite, der viel genauere Eindruck war, dass der Richter sich irgendwie freute, ihn kennen zu lernen. Bestimmt wusste er, seit er Monate vorher vor dem Haus stehen geblieben war und sich nicht entscheiden konnte, ob er anklopfen oder weitergehen sollte, welchem Beruf Montalbano nachging.

      Eine Woche nachdem sie sich miteinander bekannt gemacht hatten, saß der Commissario morgens auf der Veranda und trank Kaffee, als Leonardo Attard, in Hörweite gekommen, den auf den Sand gehefteten Blick hob, Montalbano ansah und grüßend den Hut lupfte. Montalbano sprang auf, legte die Hände zum Trichter an den Mund und schrie: »Möchten Sie einen Kaffee?«
    Der Richter bog mit seinem stets ruhigen, gemessenen Schritt vom gewohnten Weg ab und wandte sich der Veranda zu. Montalbano ging ins Haus und kam mit einer frischen Tasse wieder heraus. Sie gaben sich die Hand, der Commissario schenkte Kaffee ein. Sie setzten sich nebeneinander auf die kleine Bank. Montalbano schwieg.
      »Hier ist es sehr schön«, sagte der Richter mit einem Mal. Das waren die einzigen verständlichen Worte, die er aussprach. Als er den Kaffee getrunken hatte, stand er auf, lupfte den Hut, murmelte ein paar Worte, die der Commissario als ›auf Wiedersehen‹ und ›danke‹ deutete, ging auf den Strand hinunter und nahm seinen Spaziergang wieder auf.
      Montalbano wusste, dass er einen Punkt zu seinen Gunsten verbucht hatte.

      Die Einladung, einen Kaffee zu trinken, fand noch zweimal statt, immer mit dem gleichen schweigenden Ritual. Beim dritten Mal sah der Richter den Commissario an und sagte langsam:
      »Ich würde Sie gern etwas fragen, Commissario.« Er spielte mit offenen Karten, nie hatte Attard sich direkt erkundigt, womit Montalbano sein Brot verdiente.
    »Natürlich, Giudice.« Auch er hatte seine Karte aufgedeckt.

    »Ich möchte jedoch nicht missverstanden werden.«
    »Das passiert bei mir selten.«

      »Waren Sie sich in Ihrer beruflichen Laufbahn immer

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