Die Nacht des einsamen Träumers.
sicher, zweifelsfrei sicher, dass die Personen, die Sie als schuldig festgenommen haben, dies auch wirklich waren?« Alles hatte der Commissario erwartet, nur diese Frage nicht. Er öffnete den Mund und schloss ihn gleich wieder.
Eine solche Frage konnte man nicht beantworten, ohne darüber nachzudenken. Vor allem nicht unter dem festen, starren Blick des Richters. Der plötzlich zu einem solchen geworden war. Attard bemerkte Montalbanos Unbehagen.
»Ich will nicht jetzt auf der Stelle eine Antwort. Denken Sie darüber nach. Auf Wiedersehen und danke.« Er stand auf, lupfte den Hut, ging auf den Strand hinunter und nahm seinen Spaziergang wieder auf. »Danke, so ein Scheiß«, dachte Montalbano, der stocksteif dastand. Da hatte ihm der Richter was eingebrockt.
Am Nachmittag desselben Tages rief der Richter den Commissario an.
»Verzeihen Sie, wenn ich Sie im Büro störe. Aber meine Frage von heute Morgen war zumindest unangebracht. Bitte entschuldigen Sie. Können Sie heute Abend, wenn Sie nichts anderes vorhaben, nach der Arbeit zu mir kommen? Es liegt ja am Weg. Ich erkläre Ihnen, wo ich wohne.«
Das Erste, was dem Commissario auffiel, als er das Haus des Richters betrat, war der Geruch. Nicht unangenehm, aber penetrant: ein Geruch ähnlich dem von Heu, das lange der Sonne ausgesetzt ist. Dann begriff er, dass es der Geruch von Papier war, von altem, vergilbtem Papier. Hunderte und Aberhunderte von dicken Aktenbündeln stapelten sich vom Boden bis zur Decke in stabilen Holzregalen, die in den Zimmern, im Flur, in der Diele standen. Das war keine Wohnung, sondern ein Archiv, dem der minimale, unbedingt notwendige Raum abgerungen war, damit ein Mensch darin leben konnte. Montalbano wurde in ein Zimmer geführt, in dessen Mitte ein großer, mit Papieren übersäter Tisch, ein Sessel und ein Stuhl standen.
»Ich muss mit Ja antworten«, begann Montalbano.
»Worauf?«
»Auf Ihre Frage von heute Morgen: Bei den Personen, die ich festgenommen habe oder habe festnehmen lassen, bin ich mir, innerhalb meiner Grenzen, deren Schuld zweifelsfrei sicher. Auch wenn die Justiz sie manchmal nicht für schuldig befunden und freigesprochen hat.«
»Ist Ihnen das passiert?«
»Manchmal ja.«
»War das bitter für Sie?«
»Überhaupt nicht.«
»Warum nicht?«
»Weil ich zu viel Erfahrung habe. Heute weiß ich sehr wohl, dass es eine Wahrheit vor Gericht gibt, die sich auf einem Gleis parallel zur Wahrheit der Realität bewegt. Aber nicht immer führen die beiden Gleise in denselben Bahnhof. Manchmal ja, manchmal nein.«
Das halbe Gesicht des Richters lächelte. Die untere Hälfte. Die obere Hälfte nicht. Die Augen wurden sogar noch starrer und kälter.
»Ihre Rede ist irreführend«, sagte Attard. »Mein Problem ist ein anderes.«
Mit einer ausholenden Geste, langsam die Arme ausbreitend, bis er aussah wie gekreuzigt, zeigte er auf die Unterlagen ringsum.
»Mein Problem ist die Prüfung.«
»Die Prüfung wovon?«
»Aller Verfahren, die ich in meinem Leben geleitet habe.«
Montalbano spürte etwas Schweiß auf seiner Haut. »Ich habe alle Prozessakten fotokopieren und die Kopien nach Vigàta bringen lassen, weil ich hier die idealen Bedingungen für meine Arbeit gefunden habe. Ich habe ein Vermögen ausgegeben, glauben Sie mir.«
»Wer verlangt diese Prüfung denn von Ihnen?«
»Mein Gewissen.« Da konterte Montalbano.
»Oh nein. Wenn Sie sicher sind, dass Sie immer nach Ihrem Gewissen gehandelt haben...« Der Richter hob eine Hand, um ihn zu unterbrechen.
»Das ist das eigentliche Problem. Der Kern der Frage.«
»Sie meinen, Sie haben manchmal auf äußeren Druck oder weil es opportun war oder aus ähnlichen Gründen ein Urteil gefällt?«
»Nie.«
»Ja und?«
»Sehen Sie, es gibt einen Satz bei Montaigne, der das Problem überspitzt wiedergibt. Von demselben Blatt, auf dem er die Verurteilung eines Ehebrechers abgefasst hat, schreibt Montaigne, reißt dieser Richter ein Stück ab, um der Frau eines Kollegen einen kleinen Liebesbrief zu schreiben. Es ist, wie gesagt, ein überspitztes Beispiel, aber es steckt viel Wahrheit darin. Lassen Sie mich das erklären. In welchem Zustand befand ich mich, ich meine als Mensch, in dem Augenblick, in dem ich ein hartes Urteil aussprach?«
»Ich verstehe nicht, Signor Attard.«
»Commissario, das ist nicht schwer zu verstehen. Ist es mir immer gelungen, mein Privatleben von der Anwendung des
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