Die Nacht des Satyrs
sie ermordet zu haben. Es käme niemand, der für sie sprach, und sie selbst durfte nur etwas sagen, wenn sie gefragt wurde. Trotz ihrer Unschuld schien beinahe gewiss, dass sie am Ende verurteilt würde.
Im Publikum saßen Schaulustige wie auch sehr kultivierte Leute, stellte sie fest. Unter einfachen Leuten waren Prozesse ebenfalls beliebt und gern besucht, da sie das Begaffen der Gefangenen als unterhaltsam empfanden. Und dann, als Jordan sich weiter unter den Zuschauern umsah, entdeckte sie jemanden, den sie hier nicht erwartet hatte. Raine.
Sie fuhr zusammen, als seine silbernen Augen sie musterten, sichtlich verwirrt, weil sie wie ein Mann gekleidet war. Heute würde er die Wahrheit über sie erfahren, wie sie aufgewachsen und ihre Tage verbracht hatte, bevor sie ihm an jenem Abend in Venedig begegnete.
Ihr blieb nur, zu beten, dass er die Verbindung zwischen ihr und La Maschera nicht herstellte. Als Salerno sie verschleppte, hatte er geschworen, Raine ihre Aktbilder zu zeigen, sollte sie sich ihm widersetzen. Würde er die Drohung wahrmachen, falls er vorgeladen wurde und aussagen musste?
Vor Scham glühten ihre Wangen. Sie konnte den Gedanken nicht ertragen, dass Raine die furchtbaren Zeichnungen zu Gesicht bekam. Was würde er von ihr denken, wenn er sie sah, hockend, die Pobacken gespreizt, so dass ihr Anus aufklaffte? Oder wenn er sie auf einem Stuhl sitzend erblickte, wie sie mit den Fingern ihre Schamlippen öffnete, um dem Maler ihre Vagina zu entblößen?
Verlegen wandte sie den Blick von ihm ab und beschloss, nicht wieder zu ihm zu schauen. Sie wollte nicht miterleben, wie aus seiner Verwirrung blanker Ekel wurde.
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38
R aine suchte sie in ihrer Zelle auf.
Nie war sie so glücklich gewesen, jemanden zu sehen. »Geh weg!«, sagte sie.
»Habe ich es richtig verstanden, dass du während der letzten neunzehn Jahre vorgetäuscht hast, ein Junge zu sein?«
Jordan schlang die Arme um ihren Oberkörper. »Nein. Du hast meine Ankläger gehört. Ich bin männlich. Ich täuschte lediglich vor, eine Frau zu sein, seit ich dir begegnet bin.«
Er war nur Zentimeter von ihr entfernt und betrachtete sie von oben bis unten. »Du willst ein Mann sein? Möchtest du das?«
Hierauf antwortete sie nicht.
Raine drückte sie mit seinem Körper an die Wand, und unwillkürlich drehte sie ihren Kopf, so dass sie seinen Duft inhalieren konnte. Er hatte ihr gefehlt.
Seine Hände waren zu beiden Seiten von ihr an die Wand gestützt, als er flüsterte: »Hast du mich deshalb so oft gebeten, meinen Schwanz in deinen weiblichen Spalt zu stecken? Bist du deshalb mit mir in die Toskana gekommen? Hast du darum deine Rolle als meine Frau genossen?«
Sie zuckte mit den Schultern. »Ich bin müde, Raine.«
Er beugte sich noch näher zu ihr. »Gib es zu! Du bist weiblich, nicht wahr?«
War sie das? »Diese Frage ist nicht zu beantworten. Ich verfüge über gegensätzliche Genitalien, die mich beiden Geschlechtern zuordnen lassen.«
»Dennoch führten sie dich zu mir, in mein Bett. Und du schienst dort recht zufrieden – begierig sogar.«
»Du warst eine Abwechslung«, log sie, verriet sich allerdings sofort, indem sie seine Wange streichelte. Sie konnte nicht anders, denn womöglich war es die letzte Gelegenheit. »Ich hatte immer vorgehabt, nach Venedig zurückzukehren und meinen Platz in der Gesellschaft einzunehmen – als Mann.«
»Weil du es wolltest?«
Sie schüttelte den Kopf. Was sollte weiteres Lügen? »Nein, ich ziehe es vor, mich als Frau durch die Welt zu bewegen. Aber bisweilen stelle ich fest … dass es mir gefällt, den Mann zu spielen.«
Zunächst schwieg er.
Dann sagte er sehr leise und liebevoll: »Das könntest du tun. In der Toskana. Bei mir.«
Ihr Hals wurde unangenehm eng. »Du würdest dich mit mir vereinen wie ein Mann mit … einem anderen Mann?«
Er nickte. »Dein Geschlecht ist mir gleich. Ich will dich.« Durch ihrer beider Hosen fühlte sie seinen Penis, der gegen ihren Unterleib stupste. Ihrer war gleichfalls vor Verlangen geschwollen. »Und du willst mich.«
Auch wenn es ihr das Herz brach, entwand sie sich ihm und ging ein Stück auf Abstand. »Was wir wollen, ist unerheblich. Falls das Gericht herausfindet, was ich bin, wird dies deine Familie berühren. Meine Vergangenheit würde euren guten Namen beschmutzen.«
»Es gibt Mittel und Wege, um das zu verhindern«, erwiderte er streng. »Meine Familie verfügt über eine gewisse Macht, auch bei den Gerichten. Doch
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