Die Nacht des Satyrs
interessante Wortwahl, Signorina! Womöglich
seid
Ihr die Antwort auf meine Träume.«
Sie zog die Frau wieder nach oben. »Kommt, lasst mich Euch aus diesen Kleidern helfen! Allerdings möchte ich Euch etwas anderes als das vorschlagen, was Euch herbrachte, womit Ihr mir jedoch einen weit größeren Dienst erweisen würdet.«
Als der Wärter eine Stunde später wiederkam, wartete die Besucherin in dem Umhang bereits an der Tür. Ihr Haar war zerzaust, ihre Kleidung zerknittert und unordentlich. Sie senkte den Kopf, um seinem wissenden Blick auszuweichen.
»Ich möchte gehen«, erklärte sie leise.
Hinter ihr stand La Maschera an dem kleinen Fenster und blickte auf die Straße hinaus.
Der Wärter machte eine abfällige Geste in seine Richtung. »Bei dem kleinen Pimmel, den er hat, wird er gewiss keinen großen Eindruck auf eine Signorina wie Euch machen. Ich würde ja meine Dienste anbieten, aber ich habe Weisung, Euch zu Signor Salerno zu schicken.«
Die verhüllte Gestalt zuckte nur mit den Schultern.
»Wohl keine große Rednerin, was?«, fragte der Wärter. »Das mag ich bei einer Frau. Na, dann kommt!«
Er öffnete die Tür, ließ sie hinaus und verriegelte hinter ihr wieder.
Jordan spürte den Blick des Wärters auf ihrem schwingenden Umhang, als er sie unwissentlich in das Sonnenlicht hinaufgeleitete – in die Freiheit. Die Frau, die allein in der Zelle geblieben war, hatte ihr gesagt, wo sie die anderen LAMAS -Mitglieder fand. Sie würden kommen und ihre Freundin aus dem Gefängnis holen, sobald Jordan sie über die Situation informiert hatte. Die Frau und sie hatten sich ein Märchen ausgedacht, das sie den Wärtern erzählen würde: Sie wäre von Signor Jordan Cietta überwältigt worden, der sie hier zurückließ, auf das sie in der Zelle verrottete.
Draußen vor dem Gefängnis verabschiedete sie sich von dem nichtsahnenden Wärter und machte sich auf in die Freiheit.
[home]
40
R aine hob den Riegel und schlüpfte durch das unverschlossene Fenster ins Cietta-Haus. Drinnen fielen ihm abermals die unzähligen geflügelten Kreaturen auf, die sämtliche Zimmer schmückten. Doch heute sah er das Haus, in dem Jordan einst gelebt hatte, mit anderen Augen. Hier war sie ein Junge und später ein Mann gewesen.
Es dürfte ihr alles andere als leichtgefallen sein, Männlichkeit vorzutäuschen. Und er war sicher, dass sie es einzig aus Loyalität zu ihrer Mutter getan hatte – aus Loyalität einer Mutter gegenüber, die sie skrupellos einmal jährlich ausgeliehen hatte, damit sie zum Zwecke wissenschaftlicher Studien nackt auf einer Bühne ausgestellt wurde. Wie musste es für Jordan gewesen sein, von erwachsenen Männern auf die schamloseste Weise angefasst und befragt zu werden, als sie noch ein Kind gewesen war? Sie musste entsetzliche Qualen und Erniedrigung, gelitten haben. Raine mochte gar nicht daran denken.
Nun, da er mehr wusste, bemerkte er, wie viele der Feen, die inmitten anderer realer und mythischer Kreaturen umherflatterten, eine große Ähnlichkeit mit Jordans Mutter aufwiesen. Es war offensichtlich, dass sie sich an König Feydons heimlichen Besuch in ihrem Bett vor vielen Jahren erinnert und diese Erinnerungen sie ihr Leben lang verfolgt hatten.
Überall, wo er hinsah, erblickte Raine Celia Ciettas Gesicht, nirgends jedoch fand sich auch nur ein einziges Feenabbild, das Jordan ähnelte. Jordan, ihr einziges Kind, hatte die Mutter mehr geliebt, als es jemals von ihr geliebt worden war.
Raine ging nach oben in das Schlafzimmer, in dem sie Signora Ciettas Leiche gefunden hatten. Als er sich in dem Zimmer umblickte, bemerkte er, dass die Einrichtung hier ein wenig maskuliner als im Rest des Hauses war. Weniger überfrachtet. Der Constable hatte gesagt, dies wäre Jordans Zimmer gewesen. Warum war ihre Mutter in Jordans und nicht in ihrem eigenen Bett gestorben?
Er hob das Buch hoch, das auf dem Nachttisch lag. Die tote Celia hatte es in der Hand gehalten: eine ledergebundene Ausgabe von
Ein Mittsommernachtstraum
, Shakespeares Feenschauspiel.
Als Raine in dem Buch blätterte, fiel eine lose Illustration heraus. Raine bückte sich und hob sie auf. Sie war mit
Titanias Erwachen
überschrieben und zeigte Oberon und Titania, Shakespeares Feenkönigspaar, die in einem Meer goldenen Lichts badeten. Sie waren von einer Vielzahl anderer Figuren aus dem Stück umringt. Tanzende Feen umschwirrten sie, sorgenfrei und vergnügt. Andere Gestalten hingegen wie Hexen und Dämonen waren dunkel und
Weitere Kostenlose Bücher