Die Nacht des Satyrs
sie nicht gewillt, sich gleich wieder dem nächsten Mann unterzuordnen.
»Nehmt Ihr an, dass ich nichts Besseres zu tun habe? Dass es mir freisteht, mit Euch an ein mir unbekanntes Ziel zu reisen, um mich dortselbst mit Euch in Eurem Bett zu vergnügen, wann immer Euch der Sinn danach steht?«
»Tut es das nicht?«
Obwohl sie froh war, dass er nicht fragte, wo sie wohnte, wen sie zurückließe oder warum sie gestern Abend unter dem Umhang nackt gewesen war, ärgerte es sie, dass er dreist unterstellte, ihr gegenwärtiges Leben in Venedig wäre vollkommen wertlos.
Sie schüttelte den Kopf. »Die letzte Nacht war ein einmaliges Ereignis. Ich kann nicht mit Euch gehen. Ich weiß nichts über Euch, wie Ihr auch nichts über mich wisst.«
»Ich bin Raine Satyr, der mittlere der drei Satyr-Söhne.«
Nun machte sie große Augen.
»Wie ich sehe, habt Ihr von meiner Familie gehört.«
»Nein, im Grunde nicht. Doch ist mir der Name Satyr schon zu Ohren gekommen.«
»Ah, dann haben Euch gerade einmal die vagesten Gerüchte erreicht. Lasst mich Euch erhellen: Wir sind Winzer, und ich bin hinreichend vermögend, um Euch ein sehr komfortables Dasein zu bieten. Unser Familiensitz liegt recht abgeschieden auf dem Lande, wo niemand uns belästigen wird.«
Sie schwenkte ihre Hand einmal über ihn. »Somit seid Ihr reich, gutaussehend und intelligent genug, um Euch an die zwanzig Begleiterinnen zu sichern, die geeigneter wären als ich. Was erwartet Ihr Euch von mir?«
»Gesellschaft.«
»Und Beischlaf?«
Er nickte. »Gelegentlich.«
Also bat er sie, seine Dirne zu sein, solange es ihm beliebte. Die Idee war durchaus verlockend, zumal er nach wie vor davon ausging, dass sie eine Frau war. Falls sie mit ihm reiste, könnte sie dort, wohin er sie brachte, als Frau leben, Frauenkleider tragen. Man würde sie mit »Signorina« ansprechen. Wie gern würde sie seinem Vorschlag zustimmen, und sei es auch nur, um ein paar Wochen in Sicherheit zu verbringen – bis Salerno aufhörte, nach ihr zu suchen.
Nein. Solche Gedanken grenzten an Selbstzerstörung. Wenn ihre Identität jemals entdeckt würde, brach das sorgfältig konstruierte Kartenhaus ihrer Mutter zusammen. Und was, wenn Raine Satyr herausfand, wie der Körper wirklich beschaffen war, mit dem er sich vereinte, was zwangsläufig geschehen würde? Womöglich wurde er dann wütend – sehr wütend.
»Nun seid Ihr an der Reihe«, stellte er fest. »Wer ist Eure Familie?«
Diese Frage hatte ja kommen müssen, und Jordan war bereit. »Ich bin allein«, log sie prompt.
»Wie kam es dazu, dass Ihr auf der Straße leben müsst?«
»Mein Vater starb, bevor meine Mutter mit mir niederkam«, erzählte sie, womit sie der Wahrheit nahe genug blieb, um sich nicht in Fehler zu verstricken. »Weil ich als Mädchen geboren wurde und nicht als der männliche Erbe, auf den meine Mutter gehofft hatte, stand sie mittellos da. Das Familienvermögen fiel dem nächsten männlichen Angehörigen zu. Wie Ihr Euch vorstellen könnt, war ich also eine große Enttäuschung für sie. Dann … heiratete sie einen … Schneider. Natürlich wuchs ich in ihrem Haus auf, aber … sie zog unlängst mit ihrem Gemahl aus Venedig fort, und ich wurde nicht gebeten, mit ihnen zu kommen. Ich schlage mich seither allein durch.«
»Folglich lebt Ihr erst seit kurzem auf der Straße.«
Sie nickte.
»Ich möchte Euch warnen, denn Ihr werdet ein solches Leben nicht lange durchhalten. Schon bald könnte Euch eine Krankheit befallen, oder Ihr werdet Opfer eines Verbrechens. Also ist mein Angebot eine Chance, Euer Leben zu verlängern.«
Hierauf zuckte Jordan nur mit den Schultern. Wahrscheinlich hatte er recht, wiewohl er nicht die ganze Geschichte kannte. Momentan nämlich war es auf der Straße kaum gefährlicher für sie als in ihrem Zuhause.
In diesem Augenblick könnte Salerno im Salon ihrer Mutter auf der zierlichen Chaiselongue sitzen, die Celia jüngst mit einem neuen Satin hatte überziehen lassen – mit geflügelten Feen und tänzelnden Nymphen gemustert. Seine Klagen über Jordans vorzeitiges Verschwinden gestern Abend würden auf offene Ohren treffen, denn Jordans Mutter hatte noch nie verstanden, was in Jordan vorging, geschweige denn zugehört, wenn sie ihr erzählte, welch abstoßenden und entwürdigenden Untersuchungen Salerno sie über die Jahre unterzog. Und selbst sollte es Jordan gelingen, ihre Mutter zu überreden, sie nicht gleich wieder in Salernos Fänge auszuliefern, würde er
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