Die Nacht des Satyrs
es einzig Salerno kümmern.
Sollte sie jedoch nie mehr nach Venedig zurückkehren, bliebe der Mord an ihrer Mutter womöglich unaufgeklärt. Ungerächt. Und sie würde das Anrecht auf den Cietta-Besitz verwirken. Ihr Cousin, ein Angehöriger der Cietta-Familie, dem sie nie begegnet war, würde alles erben.
Sie seufzte ratlos. »Glaubt Ihr, dass Euer Vater es getan haben könnte? Dass er diese Frau ermordet hat? Ich meine, falls sich herausstellt, dass es Mord war?«
»Das bezweifle ich«, antwortete Raine, nachdem er kurz überlegt hatte. »Er neigt leidenschaftlichen Regungen, wie sie ein Mord voraussetzt, nicht unbedingt zu.«
»Offenbar hatte er einige leidenschaftliche Regungen, wenn es ihn ins Bett der Signora Cietta trieb, wie Eure Mutter vermutete.«
»Er wandelt von Bett zu Bett, um seine Männlichkeit zu beweisen«, erklärte Raine ihr ungerührt. »Er will nicht hinnehmen, dass er keine Kinder zeugen kann.«
Sie zog überrascht die Brauen hoch. »Aber …«
»Er ist nicht mein Vater«, erklärte Raine, der ihre Frage vorwegnahm. »Obgleich er der Gemahl meiner Mutter ist, ist Roberto Altore nicht mit mir verwandt. Ich bin der natürliche Sohn von Lord Satyr. Der Tag, an dem meine Mutter gestand, das Bett mit Satyr geteilt und von ihm einen Sohn empfangen zu haben, war derselbe, an dem Altore mich in die Toskana schickte und das Bett meiner Mutter auf immer verließ.«
»Ich verstehe.« Jordan sah sein kantiges Profil an, als er den Fenstervorhang beiseitehob, um hinauszusehen.
»Habt Ihr Eurer Mutter berichtet, was geschehen ist?«, fragte Jordan und zeigte nach hinten, wo Venedig in der Ferne immer kleiner wurde. Ihr war soeben wieder eingefallen, weshalb sie eigentlich zum Haus ihrer Mutter gekommen waren.
Raine ließ den Vorhang fallen. »Ich schickte ihr eine Nachricht, aus der hervorgeht, was sich heute Morgen zugetragen hat. Und ich versicherte ihr, dass sie von der liebreizenden Signora Cietta nichts mehr zu befürchten hätte.«
Ihre Gedanken strebten in tausend unterschiedliche Richtungen, die sämtlichst beunruhigend waren. Nun pochten ihre Schläfen noch übler, und sie drückte mit beiden Händen dagegen.
»Ist Euch nicht wohl?«, erkundigte Raine sich.
Nein, ihr war nicht wohl. Ihre Mutter war tot. Es war möglich, dass sie ermordet worden war. Und Jordan stellte die Hauptverdächtige dar. Nun stand niemand mehr zwischen ihr und Salerno. Gott, hatte
er
ihre Mutter umgebracht?
Was geschähe, wenn sie zurückkehrte und dem Constable sagte, er sollte sein Augenmerk auf den Arzt richten? Würde er sie anhören? Nein. Besser war, sie sandte eine anonyme Nachricht an ihn, in der sie ihren Verdacht darlegte.
Sie sah zu Raine, und wieder einmal fiel ihr auf, wie gut er aussah. Sie könnte mit ihm gehen und bei ihm leben, bis er ihrer überdrüssig war. Die Welt draußen müsste nie wissen, dass sie und Jordan Cietta – Sohn des seligen Cosimo Cietta und Erbe des großen Vermögens – ein und derselbe waren. Einzig sie, ihre Mutter und Salerno kannten das Geheimnis. Und jetzt nur noch sie und Salerno. Würde er nach ihr suchen? Falls sie weiter in die Toskana reiste, waren die Chancen, dass er sie fand, deutlich geringer.
Dieser Mann bot ihr an, sie in sein Heim zu bringen, Tage von Venedig entfernt, aufs Land, wo niemand sie kannte oder auf die Idee käme, nach ihr zu suchen. Wo sie als Frau leben könnte. Als seine Frau. Wo sie mit ihm in frischen Laken liegen könnte, wie sie es letzte Nacht getan hatte. Das wäre schön.
Natürlich würde es nicht ewig so gehen. Er würde ihrer leid und sich eine andere suchen, die ihm sein Bett wärmte, genau wie die Parade der feinen Herren im Laufe der Jahre irgendwann ihre Mutter leid geworden war. Celias Verehrer hatten niemals einen Grund angegeben, weshalb sie plötzlich ausblieben. Männer schienen einfach immer auf der Suche nach einem weiblichen Körper, der ihnen neu war.
Wahrscheinlich würde Raine sie aus dem Haus werfen, sobald er entdeckte, wie ihr Körper wirklich gebaut war. Aber selbst dann käme sie schon zurecht. Sie könnte vielleicht sogar einen anderen Mann finden, der ihre Seltsamkeit gar nicht beachtete und sie mochte, wie sie war. Ihre Mutter hatte einmal gesagt, dass die Contadini – Bauern und andere Landbewohner – weniger wählerisch darin waren, was sich unter den Röcken ihrer Liebsten fand, als die Cittadini – die feinen Herren von Rang und Namen, die in den Städten lebten.
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