Die Nacht des Satyrs
hinzieht«, erklärte Lyon, als er sah, wie Jordan zu einer Gruppe von Arbeitern schaute, die ihre Körbe mit üppigen Trauben füllten.
»Welche Trauben reifen als Erste? Oder sind sie alle zugleich reif?«, fragte sie.
»Der Herbstanfang fällt oft mit der Reife des französischen Merlots auf unseren frühesten Hängen zusammen«, antwortete Lyon geduldig. »Die Früchte werden mindestens einmal täglich probiert, bevor man entscheidet, wann gepflückt wird. Die Reihenfolge, in der die Bereiche abgeerntet werden, wird täglich anhand der Proben überprüft und häufig geändert.«
»Faszinierend!«, staunte Jordan, die kaum bemerkte, dass Lyon ihr noch eine Traube zum Kosten gab. Raine hatte sich gebückt, um den trockenen vulkanischen Boden unten an der Rebe zu begutachten, und Jordan war damit beschäftigt, seinen breiten Rücken zu bewundern, über dem sich das Hemd spannte. Während sie den Blick tiefer zu seinen schmalen Hüften und seinem festen Hintern wandern ließ, biss sie in die saftige Frucht. »Mmm, köstlich!«
»Die toskanische Traube, für die wir berühmt sind, ist die Sangiovese, die seit der Zeit der Etrusker angebaut wird«, fuhr Lyon fort. »Aber sie ist noch nicht reif.«
Eifersucht regte sich in Raine, als er hörte, wie unbeschwert sein Bruder mit Jordan plauderte. Lyons unkomplizierte, charmante Art hatte den Damen immer schon gefallen. Und für gewöhnlich amüsierte es Nick und Raine auch, dass alles Weibliche sich von ihrem jüngeren Bruder angelockt fühlte wie die Bienen vom Honig. Aber jetzt auf einmal störte es Raine enorm. Und zu wissen, dass sein untypischer Neid mit dem bevorstehenden Vollmond zusammenhängen musste, machte es nicht besser.
»Gehen wir weiter!«, ordnete er an, stand abrupt auf und schritt einen anderen Pfad hinunter.
Jordan bemerkte das silberne Blitzen in Raines Augen, das kam und ging. Seine Miene mochte streng und arrogant erscheinen und er sich vornehmlich wortkarg geben, aber seine Augen verrieten ihn. Blickte man nur aufmerksam genug hin, war leicht zu erkennen, dass in ihm unterdrückte Gefühle brodelten. Hinter seiner Fassade der Distanziertheit verbarg er tiefe Leidenschaft, die er sogar dann noch im Zaum hielt, wenn sie buchstäblich um Freiheit kämpfte. Jordan nahm sich im Stillen vor, bevor sie wieder abreiste einen Versuch zu unternehmen, ihn aus seinen erstickenden, selbst auferlegten Fesseln zu befreien.
»Entscheidend für die Qualität ist das sorgfältige Sortieren während des Pflückens«, erklärte Lyon. Er berührte Jordans Arm, um ihre Aufmerksamkeit auf ein paar Arbeiter am Hang zu lenken. Prompt starrte Raine wütend auf seine Hand und wollte sie am liebsten fortschlagen.
»Seht Ihr die Pflücker dort?«, fuhr Lyon fort, der nichts von der unterschwelligen Spannung mitbekam. »Ihre Körbe sind klein, um zu vermeiden, dass Trauben zerquetscht werden. Unsere Trauben treffen vollkommen unversehrt in den Kellern ein, wo sie auf einem Tisch sortiert werden. Nur die besten Früchte dürfen ins Maischbecken, wo sie gepresst werden.«
»Ich habe noch nie Wein gesehen, der in solch geraden Reihen wuchs«, ließ Jordan verlauten, die zuschaute, wie Arbeiter mit scharfen Handscheren dicke Trauben abschnitten. »Sonst sieht man sie auf dem Land oft wahllos mit anderen Pflanzen vermischt, wo sie teils zu richtigen Bäumen oder dichten Zäunen heranwachsen.«
»Raine mag es, wenn alle Dinge ihre Ordnung haben, nicht wahr, Bruder?«, provozierte Lyon ihn.
Raine zuckte nur mit den Schultern.
»Er war erst siebzehn, als er anfing, die Weine auf dem Satyr-Land so an Pfählen zu ordnen, wie sie jetzt sind. Die anderen Winzer in der Toskana haben es natürlich bemerkt und fragen sich, ob es mit zu dem Geheimnis unseres erfolgreichen Weinbaus gehört. Aber alte Sitten ändern sich nicht so schnell, also beobachten sie uns vorerst nur und warten ab, wie unser Experiment ausgeht.«
»Warum habt Ihr alles geordnet, Raine?«, erkundigte Jordan sich, die ihn in das Gespräch miteinbeziehen wollte.
»Wenn alles geordnet ist, lassen sich die Nährstoffe, die der Wein bekommt, sowie dessen Gesundheit besser überwachen. Und mit einer klaren Ordnung erreicht man leichter, dass die Trauben jedes Bereichs auch den Charakter entwickeln, den wir wollen.«
Plötzlich blickte er den leeren Pfad vor ihnen hinunter. »Noch ein Bruder fällt über uns her«, murmelte er.
»Wo?«, fragte Jordan, die ebenfalls hinsah, aber nichts entdecken konnte.
»Ah, ich
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