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Die Nacht des Schierlings

Die Nacht des Schierlings

Titel: Die Nacht des Schierlings Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Petra Oelker
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sonst zumeist Friedrich oder Momme überlassen; diesen Absud zu kochen würde ihm Freude machen. Friedrich hatte recht, er gebärdete sich wie einer, der abstürzte, er musste sich zusammenreißen. Etwas tun. Sich zu seinem Glück verhelfen.
    Leubold war mit der Gewissheit aufgewachsen, Gott habe immer einen Plan, und er, wie alle Menschen, befänden sich darin gut und geschützt aufgehoben. Alle in Gottes Hand. Irgendwann war ihm diese Gewissheit verloren gegangen, nicht von heute auf morgen durch ein dramatisches Erlebnis, wie man es häufig hörte, sondern schleichend und damit unaufhaltsam. Als er es erkannte und sich eingestand, war es für eine Gegenwehr zu spät. Vielleicht nicht ganz, selbst der in einem Strudel unaufhaltsam Versinkende wehrt sich gegen den tödlichen Sog des Wassers. So wehrte er sich immer aufs Neue gegen die mit diesem Gefühl einhergehende Gleichgültigkeit, gegen den Sog einer lauernden Düsternis. Aber es war schwer.
    Nun, da er kaum mehr umhinkonnte zu akzeptieren, dass diese Apotheke, dieser große Wurf in seinem durchschnittlichen Leben, zu scheitern drohte, war es noch schwerer.
    Doch dann, in diesem Sommer, war das Licht zurückgekehrt. Sie hatte ihn aus ihren himmelblauen, klaren Augen angesehen, hatte Heiterkeit und Stärke gezeigt und sein träge gewordenes Herz wieder rasch und hoffnungsfroh schlagen lassen. Dagegen hatte er sich gewehrt. Das war nun wirklich zwecklos gewesen, auch wenn diese jünglingshaften Gefühle gegen alle Vernunft aufgeflammt waren. Er war wohl anderthalb Jahrzehnte älter als sie und hatte nichts zu bieten als eine kurz vor dem Bankrott stehende Apotheke. Nicht einmal das Haus gehörte ihm. Jungfer Runge träumte zweifellos nur von einem schönen jungen Prinzen, von einem reichen jungen Prinzen!, zumindest von einem gut beleumundeten und fähigen Konfektbäcker, mit dem sie eines Tages ihr Erbe antreten konnte. Dennoch – schon ihr Anblick gab ihm neue Kraft, und wenn er von ihr träumte, von dieser zauberhaften kleinen Konfektbäckerin, dieser Verkörperung von Weiblichkeit, wie er sie sich als junger Mann erträumt und dumm verspielt hatte, war das Glück und Unglück zugleich.
    So hatte er bis vor wenigen Tagen gedacht. Dann war plötzlich alles anders, seit Montagnacht. Das Glück zum Greifen nah und doch unerreichbar – das ergab ein besonders quälendes Unglück. Erst recht für einen Mann, der sich stets für vernünftig und kühl denkend gehalten hatte. Tatsächlich erschreckte ihn die Vehemenz seiner Gefühle – der guten wie der schlechten.
    Die Tür flog auf, eine Welle frischer Luft wehte herein, gefolgt von Momme Drifting. Schon seltsam, dachte Leubold, da ist ihm ein Freund gestorben, zumindest ein Mann, mit dem er manches Mal im Gasthaus gesessen hatte, und seine Miene ist heiter wie stets. Vielleicht bedeutete es gar nicht, dass er heiter war?
    «Der Gewürzkrämer sagt, die Kardamomernte war schlecht», berichtete Drifting ohne Umschweife, «deshalb ist Kardamom teurer geworden, dafür ist brauner Zimt etwas billiger.» Er beugte sich, die Unterlippe vorgeschoben, über die zerknitterte Liste, die Leubold ihm mitgegeben hatte, damit er nicht nur schwatzen, sondern auch kontrollieren konnte, ob der Krämer die bestellten Waren komplett bereitgestellt hatte. «Muskatnüsse, Muskatblumen. Baldrian und Melisse waren aus, aber Melisse haben wir noch genug, vorerst. Weiter ist hier Koriandersamen für die Augenspülungen, Kreuzkümmel gegen Blähungen, Schwarzer Senf gegen Ekzeme, Ingwerwurzel. Weiter Fenchel, Gelber Senf, Spanischer Pfeffer – wusstet Ihr, dass es neuerdings Mode ist, auch in Konfekt Spanischen Pfeffer zu mischen? Die Leute nennen es allerdings Chilipfeffer, alle Welt will das plötzlich, sagt der Krämer. Teuflisch scharf, das Zeug.»
    Leubold nickte, er hatte Momme zugehört, wie der vor sich hin murmelte, und sah ihm alle Bescheidenheit seiner geistigen Gaben nach. Momme mochte Defizite haben, aber er hatte auch etwas Freundliches, manchmal kindlich Staunendes, zumeist Berechenbares, und das war in seiner, Leubolds, Welt rührend. Allerdings konnte er darauf nicht immer Rücksicht nehmen. Auch seine Welt war von außen bestimmt, von Notwendigkeiten, von Zwängen, Bedrohungen. Das Leben war kein Tanzvergnügen.
     
    «G ott sei Dank!» Jakobsen war für gewöhnlich nicht so schnell damit, den Namen des Herrn leichtfertig im Munde zu führen. Nun wiederholte er ihn sogar: «Gott sei Dank, Rosina. Ich hab schon

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