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Die Nacht des Schierlings

Die Nacht des Schierlings

Titel: Die Nacht des Schierlings Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Petra Oelker
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geschickt wurde, habe ich das nie erlebt. Nie! Ein oder zwei Absagen, wenn ein Fieber in der Stadt ist, bei Sturm oder bei Schnee und Eis, bei Hochwasser – das ist normal. Aber einfach so mit lächerlichen Ausreden? Wie heißt es so hässlich in der Seefahrt? Die Ratten verlassen das sinkende Schiff. Aber ich versichere Euch, Wagner: Dieses ist ein stolzes Schiff. Und es sinkt nicht. Niemals.»

KAPITEL 10
    A n Sonntagabenden wurde es selbst in der großen Stadt ruhiger. Bei schönem, gar sommerlichem Wetter wurde wohl viel promeniert, besonders unter den Ulmen auf den Wällen oder auf dem Jungfernstieg am Alsterufer. Bis zur Torsperre rollten die Kutschen zum Korso in der Großen Allee vor dem Steintor, wer weiter hinausfuhr, genoss die idyllischen Gehölze und zuzeiten den weithin gerühmten Gesang ihrer Nachtigallen, derweil über den Alstersee Musik, Gesang und Gläserklirren aus überdachten, mit Lampions bestückten Booten klangen. Dann war viel Gelächter in der Stadt, in den engen Gassen mit ihren vorkragenden Giebeln wurde gemütlich von Fenster zu Fenster geschwatzt, wo sich ein Flötenspieler oder Violinist fand, wurde auf den Plätzen und in den Höfen gern ein Tänzchen gewagt, bis der Abendstern und endlich auch der Mond über den Dächern aufstiegen.
    Wurde aus dem noch goldenen ein grauer und stürmischer Oktober, erinnerte sich jedermann sehnsüchtig daran, als seien alle Tage des vergangenen Sommers Sonnentage gewesen.
    Genau so ein grauer kalter Tag war dieser Sonntag. Schon vor der Torsperre um halb sechs hatten die schwarzen Wolken den Tag zur Nacht verdunkelt. Böiger Wind jagte kalten Regen durch die Gassen, kräuselte die schwarzen Wasser der Fleete, der Alster und der Elbe. Wer keinen unaufschiebbaren Weg zu erledigen hatte, blieb zu Hause. Sogar die Möwen verkrochen sich.
    Rosina und Magnus Vinstedt hatten sich trotzdem auf den Weg zum Haus der Krögerin in der Neustädter Fuhlentwiete gemacht, denn dort wurde heute geprobt. Rudolf hatte seine Arbeit an der Theatermaschinerie im Dragonerstall so gut wie abgeschlossen, er brannte darauf, sie endlich auszuprobieren. Aber an einem Sonntag verhielt sich eine insbesondere von den Kleinbürgern beargwöhnte Gesellschaft fahrender Komödianten besser still. Würde sie Probe abhalten, holte ganz sicher ein braver Nachbar die Soldaten, damit sie für Ordnung sorgten, wenn an diesem heiligen Tag eine schamlose Theaterkompanie Komödie spielte.
    Ihre Wirtin hatte nichts gegen das Proben selbst frivolster Couplets, egal an welchem Tag. Die Krögerin saß trotz der Kälte des Abends bei geöffneter Tür in ihrer Stube im Parterre, spitzte die Ohren und genoss die Gratisvorstellung. Rosina saß bei den Becker’schen im ersten Stock mit den Text- und Notenbögen in der Hand auf einem Hocker und soufflierte, wie Helena gebeten hatte. Sie machte hier auf einen falschen Ton aufmerksam, schlug dort eine schärfere oder neckischere Betonung vor, eine andere Bewegung der Hände oder Hüften – und hätte am allerliebsten selbst gesungen und gespielt.
    Magnus liebte die Proben, für ihn waren sie ein Spiel, und doch mehr als ein heiterer Zeitvertreib. Und weil er wusste, dass es für die Komödianten harte Arbeit bedeutete, die mit gutem Essen leichter und besser wurde, hatte er sich als spendabler Mensch mit Prinzipal Jean auf den kurzen Weg zum Bremer Schlüssel gemacht, um den am Vortag bestellten Topf dicker Ochsenschwanzsuppe zu holen.
    Wagner hätte sicher gerne teilgehabt. Er hockte allein in seiner kleinen Wohnung am Plan – immerhin hatte er Nachricht von Karla, deren Rückkehr für «ganz bald» in Aussicht gestellt war – und kaute lustlos auf einem Stück Speck und einem Kanten schwarzen Brotes herum. Auch er dachte an Ruths leckere Suppen, aber er musste sparsam sein. Wenn Karla zurückkehrte, wollte er sie mit etwas Schönem überraschen, er wusste zwar noch nicht womit (und hoffte auf Rosinas Rat), es würde in jedem Fall Geld kosten. Außerdem, das mochte noch schwerer wiegen, hatte er keine Lust, im Gasthaus zu sitzen, wo ihn so viele kannten, und sich nach dem Stand der Dinge in Sachen Hofmann ausfragen zu lassen. Als Amtsperson musste er verschwiegen sein, und leider gab es sowieso nichts, was er als Neuigkeit erzählen konnte. So schob er im Licht einer einzigen Unschlittkerze die Zettel mit seinen Notizen hin und her, entzifferte sein Gekritzel leicht, denn er wusste genau, was dort stand, und wurde das Gefühl nicht los, etwas

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