Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Nacht des Schierlings

Die Nacht des Schierlings

Titel: Die Nacht des Schierlings Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Petra Oelker
Vom Netzwerk:
dann davongewankt. Und glaubt mir, Wagner, das tut mir sehr leid. Versteht ihr denn beide nicht?» Sein Blick ging zu Anne und wieder zurück zu Wagner. «Das ist doch furchtbar. Ich denke nämlich, der Mann hat Hilfe gesucht. Er brauchte Hilfe, und ich habe sie ihm verweigert. Nicht nur das, ich habe ihn auch noch weggestoßen.»
    «Tjaaa …» Wagner wusste nicht genau, was Herrmanns als Antwort erwartete. «Jeder würde wohl einen so stark Betrunkenen von sich stoßen. Zumindest wenn er erbricht, möchte man ihm nicht nahe sein. Oder», seine Augen wurden schmal, sein Blick streng, «oder habt Ihr ihn – verzeiht, aber das kommt ja vor –, habt Ihr ihn doch geschlagen? Womöglich in den Rücken gestoßen? Mit einer Stange?»
    «Aber nein. Warum hätte ich das tun sollen? Und mit einer Stange? Was meint Ihr? Einem Laternenstab? Nein, natürlich nicht, der Mann wankte davon, ich war ihn los. Und ich hatte keine Laterne, das war ja das Ärgernis. Aber wenn er Hilfe suchte und ich habe sie ihm verweigert, bin ich dann nicht mit schuld an seinem Tod? Ich muss immer denken, er könnte noch leben, wenn ich ihn sicher nach Hause gebracht hätte. Es war ja nicht weit, es hätte mich keine Mühe gekostet. Aber ich habe ihn in den Tod gehen lassen.»
    Anne legte begütigend ihre Hand auf seinen Arm. «Aber das ist doch Unsinn, Lieber. Jeder hätte so gehandelt, es war Nacht, da gibt es Überfälle, da reagiert man entschieden. Deine einzige Verfehlung ist, dass du nicht Brooks mitgenommen hast, um sicher in der Kutsche heimzufahren.»
    «Ich schäme mich trotzdem, Anne. Ich habe feige gehandelt, nicht wie ein guter Christ, sondern wie ein Pharisäer. Deshalb wollte ich den Rock nicht mehr haben, nicht einmal mehr sehen. Ja, sicher, ihn einfach in der Diele auf die Truhe zu legen war dumm. Dass er dann wohl vom runden Deckel hinter die Truhe gerutscht ist, habe ich nicht bemerkt. Ich gäbe viel dafür, könnte ich die Uhr bis zu diesen fatalen Minuten in der Montagnacht bei der Brücke zurückdrehen.»
    «Montagnacht, gewiss.» Wagner, der stets gründlich und somit langsamer dachte, hatte noch etwas anderes im Ohr. «Habe ich Euch eben richtig verstanden, Monsieur Herrmanns? Ihr habt gesagt: ‹Es war ja nicht weit.› Natürlich weiß inzwischen jedermann in der Stadt, wer in der Nacht im Fleet gestorben ist. Aber als er Euch so betrunken begegnet ist? Habt Ihr es da schon gewusst? In dem Augenblick, als Ihr ihn wegstießet?»
    «Nun, in dem Augenblick?» Auf Herrmanns’ Oberlippe bildeten sich winzige Schweißtröpfchen. Es war warm im Speisezimmer, er tupfte sich mit dem Mundtuch die Lippen ab, als vermute er dort noch einen Essensrest. «Nein, nicht in dem Augenblick. Aber als er so davonwankte, Richtung Rödingsmarkt, hat es sich in meinem Kopf zusammengefügt. Ich verstand nun, warum er mir bekannt vorgekommen war. Vage bekannt, es war dunkel, die funzelige Laterne vom Hospital half wenig. Als er zum Rödingsmarkt ging, wo die Konditorei Runge ist, jetzt Konditorei Hofmann, dachte ich, der Mann müsse Hofmann sein, ich war sogar recht sicher. Ich habe ihm noch einen Moment nachgesehen, dann bin ich weitergegangen. Um auch das noch zu gestehen: Ich bin fast gerannt. Mir wurde plötzlich klar, was für ein gutes Ziel ich für Straßenräuber bin, ich vergesse das oft, schließlich bin ich hier zu Hause, alles ist mir vertraut. Jedenfalls bin ich sehr schnell gegangen und war außer Atem, als ich die Laternenträger bei der Trostbrücke fand.» Er seufzte tief, es klang mehr nach einem Stöhnen. «Wäre ich ihm nachgegangen, anstatt mich nur um meinen Heimweg zu sorgen, würde er womöglich noch leben.»
    Wagner fand, Claes Herrmanns übertreibe, trotzdem hatte er letztlich wohl recht. Wenn er es nicht war, der den Konditor in den Morast gedrückt hatte – auch nach diesem Gespräch konnte Wagner es sich nicht wirklich vorstellen –, hätte seine Gegenwart den ganz sicher vertrieben, der dort zufällig auf Hofmann traf oder auf ihn gelauert hatte. Oder hätte er seine Tat nur aufgeschoben?
    Wagner schmeckte Galle auf der Zunge. Er war wütend, ohne es sein zu dürfen. Er wusste nicht weiter, er kam nicht voran, zum ersten Mal dachte er, vielleicht sei alles nur ein großer Irrtum. Vielleicht war Hofmann einfach besoffen in den Schlick geplumpst, zu benommen, um zu wissen, wo oben und wo unten war, und erstickt. Punktum. Die Verletzung im Nacken hätte dann eine andere Ursache. Oder nicht? Blöder Physikus

Weitere Kostenlose Bücher