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Die Nacht des Schierlings

Die Nacht des Schierlings

Titel: Die Nacht des Schierlings Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Petra Oelker
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Bedeutsames vergessen zu haben. Oder übersehen.
    Den ganzen vergangenen Tag war er herumgelaufen und hatte noch einmal Leute befragt, manche direkt, andere vermeintlich en passant , ohne etwas Neues über den toten Konfektbäcker, seine Verhältnisse, Freundschaften oder Feindschaften zu erfahren. Alleine das erschien Wagner schon ungewöhnlich. Sonst fielen den Leuten die tollsten Geschichten ein, sobald einer auf spektakuläre Weise gestorben war. Hofmann war nicht von hier gewesen, daran mochte es liegen, er hatte als Meister und Ehemann einer hier Geborenen etliche Leute in der Stadt gekannt, jedoch keinesfalls so viele wie die, die hier aufgewachsen waren. Bergedorf war nicht Kiel, Bremen oder Hannover, gar Leipzig oder München, aber doch ein Stück entfernt; wenn man keine verwandtschaftlichen oder Handelsbeziehungen hatte, kannte man einander selten.
    Es half nichts – er musste noch einmal von vorne anfangen, und zwar von vorne im Sinne von Hofmanns Wegen. Zuerst die Konditorei, dann der Bremer Schlüssel … Wagner schob den Brotkanten weg und schloss einen Handel mit sich. Wenn er, bis die Turmuhr das nächste Mal schlug, keine neue und insbesondere bessere Idee gefunden hatte, fing er sofort mit Punkt zwei an, mit dem Bremer Schlüssel . Nur ein kleiner Krug Bier – das kostete nicht die Welt.
    Ein paar Straßen weiter südlich am Rödingsmarkt saß Molly Runge am Tisch in der Backstube ganz hinten nahe beim Ofen und grübelte auch. Allerdings über andere Dinge. Molly war eine praktische Person, und obwohl sie es sich ungern eingestand – es war pietätlos und gegen jede gute Sitte –, spürte sie mehr Kraft und Heiterkeit als seit langem. Sie hatte ihre Mutter gefragt, was der Meister für den Herbst und den Winter geplant habe, die Monate nämlich, in denen am meisten Konfekt und Feingebäck gekauft wurden. Sie wolle seine Vorbereitungen fortsetzen, es sei höchste Zeit.
    Das wisse sie nicht, hatte Magda Hofmann gesagt, Ratlosigkeit in den Augen. Er habe stets alles nur im Kopf gehabt, und in der nächsten Woche hatten sich alle um den großen Tisch in der Küche setzen sollen, um seine Pläne zu hören, auch für die Aufteilung der Arbeit. Es sei höchste Zeit, das habe er auch gesagt.
    «Und nun?», hatte Molly gefragt.
    Wieder hatte Magda ratlos ausgesehen. «Nun musst du es tun», hatte sie dann gesagt, «wir zusammen. Es wird schon gehen.»
    Und Ludwig hatte irgendetwas gebrummt wie: «Das wird sehr gut gehen.» Mehr nicht.
    Nun machte also sie ihre Pläne. Lange Listen für das, was gebacken werden sollte, dann für das, was dazu an Vorräten gebraucht wurde, was fehlte. Vor ihr lagen die Bücher, die ihr Vater geführt hatte, wenigstens dafür war sie Bruno Hofmann dankbar: Anstatt diese Hinterlassenschaft seines Vorgängers auszusortieren oder zu vernichten, hatte er sie in der Truhe im Hofschuppen verwahrt. Die Einbände waren ein bisschen klamm, aber die Schrift gut leserlich. Das meiste hatte Molly nach ihrer jahrelangen Arbeit in der Backstube ohnedies im Kopf, aber die Bücher taten ihrer Seele gut, die Schrift ihres Vaters zu sehen, seine oft krakelig gemalten Buchstaben, seine ganz eigenen Abkürzungen, die nur sie und seine Witwe entziffern konnten, all das gab ihr ein Gefühl tröstlicher Sicherheit. Als wäre er an ihrer Seite. Aber das war er ja auch. Daran glaubte sie fest.
    Bruno Hofmann hatte wenig Neues mitgebracht, die meisten «seiner» Rezepte standen, wie sie vermutet hatte, mit einigen geringen Variationen in den Runge’schen Rezeptbüchern. Er musste sie sorgfältig gelesen haben. Molly nickte lächelnd, denn der Gedanke machte sie nicht ärgerlich, er gefiel ihr. Hofmann war ein Blender gewesen, wie sie immer gewusst hatte. Schlimm wäre es, wenn sie nun, da er tot war, erkennen müsste, dass sie ihn falsch beurteilt hatte. Zu Unrecht ver -urteilt. So machte sie an diesem Abend ihre Listen und Pläne und war, versunken in Berechnungen für verschiedene Mehl- und Zuckersorten, Gewürze, Trockenfrüchte, Nüsse, süße und bittere Mandeln, Rosen und Orangenwasser, Sirupe und was es sonst an Ingredienzien für ihre Kunst gab und nötig war. Auch Schachteln und hübsch bedrucktes Papier für die Verpackungen. Einen neuen Mörser vielleicht? Sie hatte einen besonders schönen in einer just bankrottgegangenen Apotheke gesehen, deren Inventar auf dem Brook zum Verkauf stand.
    Für einen kurzen Moment tauchte sie aus ihrer Backstubenwelt auf – sicher nur, weil unter dem

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