Die Nacht des Schierlings
Fenster eine wütende Katze gefaucht hatte – und dachte an die andere Apotheke, die beim Opernhof. Viele gingen bankrott, ständig gab es neue, oft war es nur ein Kellerquartier mit ein paar Spanbehältern, Kruken, Sirupkannen und Gläsern in einem zusammengezimmerten Regal, ein paar Krautbüscheln unter der Decke. Die Klagen über verschmutzte, schimmelige oder faulige Mittel, uralte, somit wirkungslose Kräuter und Wurzeln waren alltäglich. So würde es bleiben, solange jeder, der auf den Einfall kam, eine Apotheke eröffnen konnte. In Berlin, hatte sie gehört, in Preußens Hauptstadt, war das anders, da gab es strikte Regeln und Gesetze, echte Kontrollen des Apothekenwesens.
Meister Leubolds Offizin und Magazin waren gut und kenntnisreich bestückt, alles war reinlich, halbwegs sogar das Laboratorium im Souterrain, und der Meister selbst … rasch beugte sie sich wieder über ihre Listen. Sie hoffte, er werde Erfolg haben. Wegen Momme? Sie prüfte den Gedanken ernsthaft. Nein, entschied sie, gewiss nicht wegen Momme Drifting.
Im Norden der Stadt saß Meister Leubold in seiner bescheidenen Wohnstube hinter der Offizin und hätte sich zweifellos über die Gedanken der Jungfer Runge gefreut. Sie hätten ihn aufgemuntert, was dringend nötig war, denn er hatte einen grauen Tag. Er war alt genug und kannte sich selbst auch gut genug, um zu wissen, dass diese Melancholie – manche zogen es vor, sie Hypochondrie zu nennen – schnell verging, wenn ihm etwas Aufmunterndes begegnete. Zum Beispiel der legendäre Topf voller Gold am Ende des Regenbogens, die Ernennung zum Leibapotheker eines großzügigen und häufig auf Reisen gehenden Herzogs oder auch nur die Meldung seines Oheims, er habe seine endlosen Murkeleien abgeschlossen und könne nun ein ganz fabelhaftes Theriak liefern, das sogar der Überprüfung durch den Rat der Stadt standhalte, falls der mal auf eine solche Idee verfallen sollte.
Je weiter der Abend voranschritt, je leerer die Branntweinflasche wurde, umso verwegener die Vorstellungen davon, was ihm zu seinem Glück fehlte. Etwa die gleiche Stufe an Verwegenheit suggerierten einerseits die inneren Bilder von einer gewissen, sich auf allerfeinste Morsellen und andere süße Spezialitäten verstehenden Konfektbäckerin mit Rosenlippen und Augen wie Seen unter dem Frühlingshimmel und andererseits von einer eleganten, pfeilschnell über das Meer fahrenden Brigg unter vollen Segeln.
Wäre er nicht tief im Land und fern der Küsten geboren und aufgewachsen, wäre er Seemann geworden. Er wäre um die ganze Welt gesegelt und dann nach England gereist, um sich Captain Cook anzuschließen. Niemanden bewunderte er so sehr wie den englischen Kapitän, der in der Unendlichkeit der Meere nach dem geheimnisvollen Südkontinent suchte, nun schon auf der zweiten Reise. Leider war ihm dieser Traum erst eingefallen, als er schon ein versierter Apotheker und alternder Mann von Mitte dreißig war.
Aber das war nicht der Grund, warum er heute gegen seine Gewohnheit die ganze Flasche zu seinem Sessel mitgenommen hatte. Ab und zu ein Schluck Branntwein, das fand er angenehm, mehr sonst nicht. Er sank noch tiefer in seinen Sessel, die Beine halbwegs bequem auf einem dick mit Rosshaar gefüllten Kissen, und begann sich endlich schläfrig zu fühlen. Schon zu schläfrig, um noch in seine Schlafkammer zu gehen. In den letzen Tagen hatte er sich danach gesehnt, seinen unruhigen Geist zu besänftigen, zu benebeln, wie die Leute hier sagten. Er hatte auch an Laudanum gedacht, ein langer tiefer Schlaf schien so verlockend. Aber der Branntwein war ihm alltäglicher erschienen. Und männlicher.
Rosenlippen, dachte er noch einmal und wurde wieder ein bisschen wach. Nicht für ihn, nicht für ihn. Der Wind rüttelte an seinem Fenster und ließ einen Schatten vorbeigleiten. Da wehte etwas über den Hof, eine Plane oder ein von irgendwelchen Schultern gerissener Mantelumhang? Leubold kümmerte das nicht. Er sah wieder Mommes Gesicht vor sich, selbstgefällig, wie er fand, einfältig grinsend. Bald, so hatte der Geselle geheimnisvoll getan, bald mache er sein Glück. Die schönste Jungfer, die bequemste Zukunft. Das hatte er natürlich nicht ihm, seinem Meister anvertraut, das tat man nicht, wenn man noch einen Arbeitskontrakt erfüllen musste. Er hatte es zu diesem fragwürdigen Menschen geflüstert, den Friedrich seinen Adlatus nannte und der sich nicht als Graf anreden lassen wollte, obwohl er vermutlich einer war. Dem hatte
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