Die Nacht des Schierlings
machen.»
Die ersten Passanten und abendlichen Flaneure blieben stehen, in taktvoller Entfernung, doch mit unverhohlen neugierigen Gesichtern, und fanden sehr interessant, was dort geschah, denn dass das die Herrmanns waren, wusste fast jeder.
«Mach das nie wieder, hörst du? Weißt du, wie lange du fort bist? Ohne etwas zu sagen. Keiner weiß, wo du bist und was du den ganzen Tag machst. Ich bin fast gestorben vor Sorge, als du mittags nicht zum Essen kamst und auch keine Nachricht schicktest. Ich kann mich nicht erinnern, wann das zum letzten Mal geschehen ist. Wo, um Himmels willen, bist du gewesen?»
Er zog sein Schnupftuch aus der Rocktasche, fasste behutsam ihr Kinn und wischte eine mit Straßenstaub vermischte Tränenspur aus ihrem Gesicht. «Ich bin einfach herumgelaufen», erklärte er leichthin, «ich hatte nicht vor, so lange auszubleiben, ich bin immer weiter gegangen, es war», er überlegte für einen Atemzug, «es war befreiend. Und ziemlich ermüdend», fügte er grinsend hinzu. «Wie hast du mich gefunden?»
«Ich bin zum Garten hinausgefahren, dort warst du nicht, überhaupt niemand mehr. Und bevor ich nun anfing, bei deinen Freunden anzuklopfen, was sehr peinlich gewesen wäre, bin ich zu deinen Lieblingsplätzen gefahren, dieser war der zweite, der mir einfiel, gleich nach Jensens Kaffeehaus. Und hier bist du. Mein Kabriolett steht dort unten», sie zeigte vage zum Zeughausmarkt, «kommst du jetzt endlich mit mir nach Hause?»
Claes Herrmanns fühlte sich bei der Heimfahrt in dem bequemen kleinen Gefährt neben seiner Frau und mit heruntergeklapptem Verdeck wie ein Sieger. Er war den schwarzen Wolken davongelaufen. Sein schlechtes Gewissen hielt sich in Grenzen, er war entzückt gewesen, seine Frau so in Sorge um ihn zu sehen. Wirklich entzückt. Es hatte alle Fremdheit zwischen ihnen weggewischt. Allerdings nur, weil es tatsächlich keinen Grund zur Sorge gegeben hatte. Er hoffte, es werde so bleiben. Er hoffte es sehr.
M uto hatte Glück gehabt. Sie brachten ihn nicht zu Fuß zur Fronerei auf den Berg genannten Platz nahe der St. Petrikirche, was einem Spießrutenlaufen gleichgekommen wäre, sondern in einem geschlossenen Wagen, einer ungefederten Holzkiste auf Rädern. Zudem war wenige Tage zuvor der stinkende und längst klumpig gewordene Strohsack, der im Kerker in der Fronerei als Lager diente, ausgetauscht worden. Der Knecht des Frons hatte auch sonst ein bisschen saubergemacht, so hielt sich wenigstens der Gestank in erträglichen Grenzen. Dennoch war ein Kerker ein Kerker, nur ein winziges, hoch angebrachtes Fenster spendete geizig Licht und Luft, in der Enge und Düsternis seiner Mauern hingen die Ausdünstungen der Verzweifelung und Angst vieler Gefangener. Als Rosina eintrat, nahm ihr das fast den Atem, zugleich war sie froh, dass sie in der Eile außer einem Stück Brot, einer kleinen Wurst und zwei Äpfeln auch nach ihrem großen Umhangtuch gegriffen hatte. Das Tuch gegen die Kühle des Abends, aber es war das Erste, was ihr nun einfiel, als sie Muto auf dem Strohsack hocken sah, den Kopf tief gesenkt, dort, wo das Haar auseinandergefallen war, der helle Nacken, so verletzlich. Das Tuch würde hier bei ihm bleiben, es wärmte ja nicht nur, es war sauber, roch gut und war als Teil der freien Welt ein Trost. Sie wusste selbst sehr genau um solche Tröstungen. Und in diesem Loch, unter der Bedrohung des Galgens, bedurfte es jeder möglichen Tröstung.
Da erkannte Muto statt des erwarteten Knechts oder Weddemeisters Rosina und sprang auf. Er war so groß geworden, so völlig erwachsen, doch in diesem Moment wieder der Junge, dem sie viele Jahre ihre Stimme und Sprache geliehen hatte, der ihr immer nah gewesen war. Bis sie die Theatertruppe verlassen und er ihr darum gezürnt hatte.
Als Helena vorhin an ihre Tür gehämmert hatte, aufgeregt, zerzaust, wütend, voller Angst, und erzählte, die Soldaten hätten Muto am Millerntor festgehalten und in die Fronerei gebracht, war sie erschrocken gewesen. «Am Tor?», hatte sie gefragt. «Wohin wollte er?»
«Zu Matti und Lies auf dem Hamburger Berg. Er wollte einfach ein bisschen raus, die Mauern waren ihm in der letzten Zeit zu eng. Aber was soll die Fragerei, Rosina? Nun komm und vertrödele keine Zeit. Du musst ihm helfen. Auf dich hört Wagner, dich lassen sie vielleicht sogar zu ihm. Wenn wir kommen, Fahrende, Komödianten – die lachen uns doch nur aus. Aber jemand muss für ihn reden. Der verdammte Idiot schweigt sich mal
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