Die Nacht des Schierlings
hatten, die Köpfe nah beieinander, aber den Blick noch auf ihm, miteinander geflüstert, bedeutungsvoll genickt, verächtlich die Lippen verzogen, böse gelächelt.
Damen, die er nicht als solche bezeichnen würde, leichte, mit Schminke geputzte Weiber, waren im Gegenteil ganz nah an ihm vorbeigegangen, hatten ihn die Wolke ihrer aufdringlichen Gerüche streifen, ihre einladenden Blicke sehen lassen. Er war sich vorgekommen wie in einer anderen Stadt. In einem fremden Leben. Und doch wusste er nun, am Ende des Tages, nicht, ob das alles wahr gewesen war oder ob er nur geglaubt hatte, all das zu sehen.
Es hatte ihn an die Wochen nach Marias Tod erinnert, als ihm Argwohn entgegengebracht worden war. Er wusste bis heute nicht wirklich warum. Aber heute hatte es wie auch damals Ausnahmen gegeben. Zum Beispiel hatte er Monsieur Bach getroffen, den städtischen Musikdirektor, der mit Professor Büsch zu irgendeiner Sitzung unterwegs war, beide waren stehen geblieben und hatten beharrlich versucht, ihn zu überreden, sich ihnen anzuschließen. Gräfin von Bentinck, wie meistens zu Pferd, hatte ihm aus dem Sattel undamenhaft einen Gruß zugerufen, wie es ihre erfrischende Art war, laut genug, dass sich die Köpfe nach ihr umdrehten.
Endlich war er aus der Stadt herausgewandert, er hatte Luft gebraucht, viel frische Luft, er war bis zum Garten an der Außenalster gegangen, hatte dem Gärtner zugenickt, der ihm eilfertig die Pforte öffnete. Aber dann hatte er noch einmal genickt und war auf dem mittleren Weg weitergegangen. In Eppendorf hatte er einen Imbiss genommen und am Nachmittag Glück gehabt, als er eine der dort seltenen Droschken erwischte.
Plötzlich hatte er sich verloren gefühlt und Sehnsucht nach zu Hause gehabt, nach Anne, nach Augusta, seinen Söhnen, nach allem, was vertraut war, eine brennende, zuweilen furchtsame Sehnsucht. Trotzdem hatte er sich noch nicht zum Neuen Wandrahm fahren lassen, sondern zur Bastion Albertus, von jeher sein Lieblingsplatz auf den Wällen, weil man von dort den ganzen Fluss hinuntersehen konnte, fast bis nach Cuxhaven. Das war natürlich lächerlich, aber eine schöne Vorstellung, weil der Fluss sich dort endgültig zum Meer weitete und zum unendlichen Rest der Welt. So hatte er den Blick zumindest über die Inselwelt zwischen den beiden Hauptarmen des geteilten Stromes schweifen lassen, der Norder- und der Süderelbe. Die wippenden Segel der auf den Wasserläufen fahrenden letzten Ewer, zwei just einlaufende Großsegler, schon mit gerefften Segeln. Er hatte den Möwen nachgesehen, einem Fischreiher, und sich vorgestellt, einfach immer weiter zu gehen, leider taten ihm die Füße furchtbar weh, seine Schuhe waren für solche Märsche nicht gemacht. Unten beim Baumhaus den Ewer hinüber ins Hannöversche nehmen? Das klang verlockender.
Vielleicht würde er das tun. Warum nicht? Aber nicht jetzt, nicht dieser Tage. Nun erst recht nicht. Er blickte noch einmal den im herbstlich auffrischenden Wind tanzenden Möwen nach, hörte ihre schrillen Schreie und hätte ihnen fast zugewinkt. Nun war er müde und auf eine ungewohnte Weise froh und mit sich eins. Er war Claes Herrmanns, so schnell warf ihn doch nichts um. Andere, sicher auch Schwächere, lebten ständig mit Misstrauen, gar mit selbstverständlicher Ablehnung. Er dachte an Rosina, an die Becker’schen Komödianten. Bevor er sie kennengelernt hatte, hätte er sich niemals mit ihnen an einen Tisch gesetzt, und er wurde schon wehleidig, nur weil ein paar wankelmütige Menschen zurzeit die Straßenseite wechselten, wenn sie ihn sahen oder einer Einladung in sein Haus nicht folgten. Leider waren unter diesen «wankelmütigen Menschen» auch einige, die er bisher als seine Freunde bezeichnet hatte. Das war nur ein Sturm im Wasserglas. Das würde vergehen. Und in ein paar Wochen würde er es schon vergessen haben. Er musste sich nur ein bisschen Mühe geben.
Er wandte sich der nächsten Bastion zu, Casparus, und damit dem dahinter den Wall durchstoßenden Millerntor. Dort würde er sicher wieder eine Droschke finden. Es war nicht weit bis nach Hause und beinahe peinlich, für eine solche Strecke einen Wagen zu mieten. Peinlich? Er lachte. Sie trauten ihm doch ohnedies alles Üble zu.
Bevor er zum Vorplatz des großen Tordurchgangs hinunterging, blieb er stehen und sah zu dessen Turm hinüber. Als Teil eines Stadttores war er besonders schön, bewacht von drei die Klugheit, die Wachsamkeit und den Frieden darstellenden Statuen,
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