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Die Nacht des Schierlings

Die Nacht des Schierlings

Titel: Die Nacht des Schierlings Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Petra Oelker
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und sogar von einer Uhr geziert. Deren Zeiger gingen zwar zu langsam, weil das aber jeder wusste, beeinträchtigte es niemanden. Er blickte hinab auf das Gedränge vor dem Tor, Männer, Frauen, Kinder, allerlei Getier, Wagen und Kutschen, Reiter – das allabendliche Spektakel, beinahe wie ein kleiner Jahrmarkt.
    Plötzlich entstand nahe beim Eingang in den langen Tortunnel Unruhe, dort unten wurde einer festgenommen. Herrmanns hatte das schon öfter gesehen, natürlich, das geschah ja recht oft, heute berührte es ihn, fast so, als sei es sein zweites Ich, das dort abgeführt wurde. Stellten die Leute, die sich seit einigen Tagen verhielten, als habe er tatsächlich einen Makel, sich vor, er werde bald so abgeführt?
    Dann erkannte er den Mann zwischen den Wachsoldaten und erschrak wirklich. Das war Muto. Es gab keinen Zweifel. Er hatte ihn ja schon als Jungen gekannt.
    «Jetzt ham se den Kerl endlich», sagte ein hagerer Glatzkopf, räusperte sich vernehmlich und spuckte grünen Schleim durch die Lücke in seinen Vorderzähnen aus. «Der wollte abhauen, ganz klar, rüber nach Altona ins Dänische und dann aufs Schiff und nach England. Der Däne lässt ja gern Mörder frei rumlaufen.»
    «Nee. So schlimm ist der Däne nich’. Da drüben knüpfen sie die Mörder auch auf», widersprach sein Begleiter, einer dieser graugesichtigen, ärmlich gekleideten Männer, die stets übersehen werden. «Sind eigentlich eher Holsteiner da in Altona.»
    «So oder so. Nu’ wird er bald baumeln, der Karottenkopf.»
    Die beiden sahen bequem an den Stamm einer Ulme gelehnt zu, wie Muto im Torhaus verschwand.
    «Wen haben sie denn da geschnappt», fragte Claes, «ich meine, was hat der Mann gemacht?»
    Die beiden sahen ihn an, einen Mann im feinen, aber staubigen Rock, die Schuhe völlig verschmutzt, Auch Gesicht und Halsbinde nicht mehr sauber, das sprach für ihn.
    «Der hat doch den Konditor abgemurkst», sagte der Glatzköpfige, der die dänischen Nachbarn nicht mochte, «und letzte Nacht den Apotheker, habt Ihr’s noch nicht gehört? Der Geselle vom Apotheker beim Opernhof.»
    «Na», nuschelte der andere, «das passt ja. So ’n Fahrender und Mord im Opernhof beim Komödienhaus.» Er lachte meckernd und schlurfte davon, der Glatzköpfige sah ihm stirnrunzelnd nach. «Wo er recht hat, hat er recht», brummte er, hustete geräuschvoll, spuckte nochmal genüsslich auf den Boden, und ging auch davon.
    Claes Herrmanns starrte immer noch hinunter zum Torhaus, zwei Soldaten mit geschulterten Gewehren standen davor Wache. Sonst sah es aus, als sei nichts geschehen. Sowenig Muto sich gegen die Soldaten gewehrt hatte, so wenig schien es die Menschen dort unten zu interessieren, was mit ihm geschah. Sie wollten nur endlich das Tor passieren und ihrer Wege gehen.
    Und wenn er jetzt hinunterginge, sich erkundigte, warum man den Akrobaten festhalte, welche Beweise es gegen ihn gebe – der Wind fühlte sich plötzlich kühler an, kälter. Was wusste er denn? Aus dem stummen Jungen mit den wachen, freundlichen Augen war ein Mann geworden, den kannte er nicht. Gut möglich, dass er schuldig war. Er war genau in dem Alter, in dem ein Mann dazu neigt, unbeherrscht zu sein, mit der Welt und allem, was sich darauf bewegt, zusammenzustoßen. Diese Jahre waren ein einziger langer Kollisionskurs. Glück hatte, wer sie heil überstand. Er und seine Söhne hatten dieses Glück gehabt.
    «Claes!» Er hatte sie im Schatten der Büsche nicht kommen sehen, schwarze Wolken verdunkelten den späten Nachmittag, es würde heute früher dämmern, doch da kam Anne den Weg heraufgerannt, hell wie ein Licht. Die Röcke gerafft, die Frisur in Auflösung, das um ihre schmalen Schultern geschlungene Wolltuch rutschte und fiel, sie merkte es nicht, denn just in dem Moment hatten sie einander erreicht, und als er sie fest umarmt hielt, spürte er ihr Zittern, an seiner Wange ihre Tränen.
    Erschreckt gab er sie frei und sah sie an. «Was ist passiert? Christian?» Zwei Männer waren schon ermordet worden – für diesen Moment war er sicher, seinem Sohn sei Schreckliches zugestoßen.
    «Christian?» Sie wischte mit beiden Handrücken heftig über ihre nassen Wangen, und er stellte beruhigt fest, ihr Gesicht zeigte keine Qual, nur eine verwirrende Mischung aus Ärger, Glück und Erleichterung. «Wieso Christian? Dem geht’s fabelhaft. Dein empfindsamer Sohn meint, du wirst schon wieder auftauchen, sicher habest du irgendein Geschäft zu erledigen oder Besuche zu

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