Die Nacht des Schierlings
an, er hatte tiefsten Kummer erwartet, vielleicht Verzweiflung, aber im matten Licht vor der von zwei Laternen links und rechts des Eingangs beleuchteten Fronerei blickte sie bei aller deutlichen Bekümmertheit entschlossen.
«Sag es mir», forderte er.
«Sag es mir? Was meinst du?»
Er lächelte. «Manchmal vergisst du, wie gut ich dich kenne. Ich kann in deinem Gesicht lesen, leider nicht, was hinter deiner Stirn vorgeht, jedenfalls nicht sicher und nicht im Detail. Also sag es mir.»
«Ich wusste es gerade selbst noch nicht so genau. Aber nun – wir müssen sofort zum Neuen Wandrahm. Ich muss unbedingt mit Monsieur Herrmanns sprechen. Unbedingt.»
Der kalte Wind hatte sich beruhigt und einem kühlen Lüftchen das Feld geräumt. Wolken zogen gemächlich über den Nachthimmel und gaben immer wieder den Blick auf die ersten Sterne und die über den Dächern leuchtende schmale Mondsichel frei. Noch war viel Leben auf den Straßen, Menschen eilten nach Hause, zu späten Geschäften oder vergnüglichen Abenden in den Gasthäusern, bei Freunden oder in den Konzertsälen. Auch Kutschen, Wagen und Reiter waren noch auf den Straßen und Gassen unterwegs, und doch wirkte alles Treiben weit stärker als am Morgen oder hellen Tag wie ein Eilen, was weniger an Hast oder Gedränge lag als am stetigen Fluss der Bewegungen von Mensch, Tier und Gefährt. Niemand stand mehr müßig oder in ein Gespräch vertieft herum, die Kühle und Dunkelheit der beginnenden Nacht trieb die Menschen entschiedener in ihre Wohnungen, unter schützende Dächer, hinter verriegelte Türen, als es ein ganzes Bataillon Dragoner vermocht hätte.
Die Lichter hinter den Fenstern lockten mit Traulichkeit; wo die Gasthäuser und Bierschenken ihre Türen geöffnet hatten, um Fuseldunst und Tabaksqualm hinauszulassen, drangen auch Lachen und Gespräche auf die Straßen, manchmal Gesang, Flöten- und Geigenmelodien. Es war die Stunde, in der diese Töne selbst aus düsteren Kellerschenken noch einladend klangen, noch nicht nach Trunkenheit, Streit und Schlägerei.
Auch Rosina und Magnus Vinstedt hielten sich nicht auf, sondern gingen nah beieinander, sein Arm fest um ihre Schultern, auf direktem Weg zu der Wandrahminsel.
Magnus war geduldig gewesen, als sie nach ihrer Entscheidung, sie müssten sofort die Herrmanns besuchen, schwieg. Zuerst hatte ihn ihr entschlossener Eifer amüsiert, doch er hatte sich schnell zur Ordnung gerufen. Seine Ehefrau war kein kapriziöses junges Ding, das sich gern wichtig machte oder weibliche Capricen pflegte. Wenn sie plötzlich einen Besuch machen wollte – zudem ohne Anmeldung oder Einladung, was sie sonst stets vermied –, gab es einen guten, dringlichen Grund. So hatte er schweigend darauf gewartet, sie werde ihre Überlegungen mit ihm teilen. Als sie auf der Zollenbrücke hinüber zum Grimm und zur Katharinenkirche immer noch schweigend voranmarschierte, fand er, es sei nun genug.
«Hättest du vielleicht die Güte, mich an deinen Gedanken teilhaben zu lassen?», sagte er im munteren Plauderton. «Da ich dich zu den Herrmanns begleite – nur falls du es vergessen hast: Ich bin hier, direkt an deiner Seite –, wäre es vielleicht von Vorteil, zu wissen, warum wir dort einen unangemeldeten Besuch machen.»
Abrupt blieb sie stehen, sodass er sich umdrehen und einen Schritt zu ihr zurückgehen musste.
«Habe ich wieder vor mich hin geschwiegen und allein für mich gedacht?», fragte sie und blickte reumütig. «Ich denke inzwischen, du hörst sogar meine Gedanken.»
«Zu viel der Ehre, meine liebe Madam Vinstedt. Manchmal glaube ich zwar zu sehen , was du in etwa denkst, aber in diesem Fall ist das zu schwer. Außerdem, falls du auch das nicht bemerkt hast, es ist ziemlich dunkel. Beinahe stockdunkel, würde ich sagen. Soll ich raten? Du denkst, bei dem Mordfall geht es nicht um das Kartenspiel und die gothaische Münze oder um Florinde und Mutos Eifersucht. Man weiß natürlich auch nie, ob es einen verrückten Bigotten gibt, der all die sündigen Kartenspieler der Stadt um die Ecke bringen will, aber ich denke, davon hätten wir schon gehört. Mir ist gerade etwas anderes eingefallen.»
Sie sah ihn gespannt an. «Und?», drängte sie, als er nun seinerseits mit gerunzelter Stirn in das schwarze, unter der Brücke glucksende Fleetwasser blickte, «sag schon, was ist dir eingefallen?»
«Es ist nur so eine Idee. Du hast mal angedeutet, Molly habe im Frühjahr Mamsell Elsbeth vertreten, weil es zu Hause
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