Die Nacht des Schierlings
ein Problem mit ihrem Stiefvater gab. Ich habe es so verstanden, dass sie mehr oder weniger vor ihm geflohen ist. Sagen wir mal: ausgewichen. Es wäre nicht der erste Fall dieser Art. Offenbar hat sich das wieder eingerenkt, sie lebt ja schon seit einigen Monaten wieder zu Hause. Aber wenn ich es nun bedenke: Zuerst stirbt Hofmann auf höchst unangenehme Weise, dann Drifting. Sind das vielleicht zwei Männer, die mehr von Molly Runge wollten als ihr fabelhaftes Konfekt?»
«Ich wusste es», sie gab ihm einen Kuss auf die Wange, und ihre Augen leuchteten in der Dunkelheit plötzlich sehr froh, «manchmal kannst du doch meine Gedanken lesen. Genau daran habe ich gedacht. So in etwa jedenfalls. Bleibt die Frage: Ist da jemand, der Molly für sich haben will? Oder sie zumindest keinem anderen gönnt? Der Gedanke liegt nahe, nicht? Aber irgendwie», sie kicherte, was ziemlich ungewöhnlich für Rosina Vinstedt war, «irgendwie klingt das sehr nach gotischem Melodram. Wie Titus’ Geschichte von der bleichen Mutter. Das ist ein Gespenst, das bei der Bleichenbrücke Angst und Schrecken verbreitet, ich glaube bei Neumond», erklärte sie auf seinen fragenden Blick. «Titus hat neulich davon erzählt. Es wurde nämlich herumgeflüstert, das Gespenst habe Bruno Hofmann geholt.»
«Das wäre nicht schlecht, andererseits sind Gespenster noch schwerer zu fassen als irdische Unholde. Ich denke nämlich auch, dass dir dieser Gedanke mit Jungfer Runge so gut gefällt, weil Muto nichts mit ihr zu tun hatte. Sein Herz gehört doch offensichtlich der törichten Florinde?»
«Stimmt, der törichten, kaltherzigen Florinde.» Sie schob ihren Arm unter seinen und schritt wieder aus. «Meister Hofmann hat eine – nennen wir es Vorliebe für Molly Runge gehabt, die ziemlich sicher wenig mit der Fürsorge eines Stiefvaters gemein hatte.»
«Und Momme Drifting?»
«Der soll sich sogar Hoffnungen auf ihre Hand gemacht haben, samt der sicher satten Mitgift. Das verbreitet Madam Lorenzen, die Lederhändlerin vom Rödingsmarkt. Sie ist für gewöhnlich über ihre Nachbarn gut informiert. So! Zwei Männer mit einer besonderen Vorliebe für die hübsche Jungfer Runge. Und nun sind beide tot.»
«Ja, aber warum gehen wir dann – verdammt.» Er pfiff leise durch die Zähne. «Es stimmt, es gibt einen Dritten. Oder?»
«Mag sein, dass ich mich irre, ich glaube auch nicht an eine Liebschaft zwischen Molly Runge und Herrmanns. Ich kann es mir einfach nicht vorstellen, aber vielleicht kann es der, der die beiden anderen ermordet hatte, umso besser. Und falls Anne und Herrmanns nicht selbst auf diese Idee gekommen sind, sollte man sie ihnen nahelegen. Und zwar schnell. Deshalb will ich so rasch zu ihnen.»
Sie überquerten schon die Jungfernbrücke, die hinüber zur Wandrahminsel führte. Der Wind hatte so nah am Hafen wieder aufgefrischt und brachte den Geruch nach Teer, nassen Segeln, Brackwasser und dem Potpourri der Gerüche aus den Speichern mit, schon vermischt mit dem Geruch von herbstlich nassem Laub.
«Glaubst du, Wagner denkt auch daran?», fragte Magnus. «Warum hast du ihm nicht gesagt, was du darüber denkst?»
«Ich weiß nicht genau. Er kann Claes Herrmanns ohnedies nicht schützen, das kann der besser selbst, indem er in der Dunkelheit nicht ausgeht oder Brooks mitnimmt. Brooks ist nicht nur seit vielen Jahren sein Kutscher wenn es darauf ankommt, ist er auch der beste Wachhund, und mit seinen Fäusten sollte man sich besser nicht anlegen.»
«Und er sollte nur essen und trinken, was aus seiner eigenen Küche kommt.»
«Du meine Güte, ja, das auch, unbedingt. Ich weiß nicht, was jetzt richtig ist, Magnus. Wagner braucht einen Täter, dass er nun Muto in den Kerker bringen musste, macht ihn sicher nicht glücklich. Aber Claes Herrmanns kann er nun als möglichen Täter erst mal vergessen.»
«Was sollte der auch gegen Momme Drifting gehabt haben?»
«Ja, das wäre eine noch zu lösende Frage.» Sie bogen in den Neuen Wandrahm ein, und wieder blieb Rosina stehen. «Vielleicht ist Muto zurzeit im Kerker am besten aufgehoben», überlegte sie laut. «Auch was ihn betrifft, kann man es doch so sehen: Zwei Männer, mit denen er Karten gespielt hat, sind schon tot.»
Sie schritt wieder kräftig aus, das große Haus der Herrmanns mit den beiden Laternen links und rechts des Portals und den beleuchteten Fenstern war schon zu sehen. Plötzlich hatte sie es sehr eilig. Hoffentlich kamen sie nicht zu spät, und Claes Herrmanns war
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