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Die Nacht des Schierlings

Die Nacht des Schierlings

Titel: Die Nacht des Schierlings Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Petra Oelker
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doch der Täter sein könnte?»
    Sie antwortete nicht gleich. Mit dieser Frage hatte sie nicht gerechnet. Aber dann spürte sie Dankbarkeit und Erleichterung. Manches wurde erst schlimm, wenn man es aussprach, anderes – auch die Frage nach Mutos Schuld oder Unschuld – wurde dadurch erträglich. «Ja», sagte sie endlich, «ja, der Gedanke quält mich. Aber nicht zu sehr. Der Gedanke, sie könnten ihn schuldig sprechen, wenn er unschuldig ist, und daran werde ich weiter glauben, bis das Gegenteil bewiesen ist, dieser Gedanke quält mich viel mehr.»
    Er nickte. Ihm ging es anders, aber es gab keinen Grund, das zu erwähnen.
    Als Holzpantinen vor der Tür klapperten, lösten sie sich voneinander. Pauline trat ein, schwer atmend, einen vollen Korb mit beiden Händen vor dem Bauch haltend.
    «Die spinnen», schnaufte sie zur Begrüßung und stellte den schweren Korb vor ihren Füßen auf die Diele, presste die Fäuste in den Rücken, ihr schwarzes wollnes Schultertuch rutschte unbeachtet auf die Dielen, und reckte sich. «Diese Grünhöker tun so, als wär’ schon Januar, und alles, was es noch an Gemüse gibt, muss doppelt teuer sein. Ist aber noch nicht mal November. Wie soll eine Frau da ihre zehnköpfige Familie satt kriegen? Das solltet Ihr mal dem Weddemeister sagen, Madam, wenn Ihr den schon so vertraulich kennt. Darum sollte er sich kümmern, das käme mal uns allen zugute.»
    «Ich werde daran denken, Pauline. Allerdings fürchte ich, dafür ist jemand anders zuständig, sicher irgendeine Deputation. Aber er wird das wissen.»
    «Und wenn das nächste Mal so schwer zu schleppen ist», Magnus nahm den Korb auf, um ihn in die Küche zu tragen, «auf dem Markt draußen stehen genug kräftige Jungs rum, die sich über ein paar Pfennige freuen.»
    Pauline murmelte etwas von Großzügigkeit und rief, das gehe aber nicht, dass Monsieur nun ihren Korb trage, dann schlug sie sich gegen die Stirn. «Beinahe hätte ich es vergessen, Madam. Da sind Briefe gekommen.»
    «Von Tobi?», fragte Rosina hoffnungsvoll.
    «Das glaub ich nicht, die kommen ja immer direkt über das Kontor von den Garten-Herrschaften, von den Bocholts. Nee, ich war beim Hannöverschen Postamt auf der Hohen Brücke.» Sie fuhr mit ihrer kräftigen geröteten Hand in die Tasche der genau zu Rock und Bluse passenden Schürze aus blauem Leinen und zog drei Briefe hervor. Zwei sahen etwas ramponiert und nach einer längeren Reise aus, beide waren an Magnus adressiert, der andere an Rosina.
    «Der ist nicht vom Postamt, den hat mir gerade ein Bote gebracht», erklärte Pauline schon auf dem kurzen Weg zur Küche. «Ich hab den Jungen unten getroffen, er suchte noch nach der richtigen Wohnung, und ich hab ihm auch was gegeben.» Schon in der Küche verschwunden, rief sie noch: «In ’ner guten Stunde, wenn’s beliebt.» Es bedurfte keiner weiteren Erklärung, dass damit das Servieren des Mittagessens gemeint war.
    Der Brief war von Matti. Rasch erbrach Rosina das schlichte Siegel und entfaltete den Bogen, die akkurate Schrift der alten Hebamme war gut zu lesen. Rosinas Sorge war zum Glück überflüssig, es war weder ein Hilferuf noch die Nachricht, der alten Freundin Lies gehe es schlecht. Matti hatte von Mutos Einkerkerung gehört und war ihrerseits zutiefst besorgt. Sie war sofort bereit zu bezeugen, sie habe Muto am Montag erwartet, weil er ihr, einer alten Frau, bei schweren Arbeiten im Garten helfen sollte. Er habe auch über Nacht in ihrem Haus bleiben sollen, weil das Millerntor ja bald geschlossen wurde.
    Rosina lächelte. Sie hatten es nicht erwähnt, aber jemand von den Komödianten musste Matti und Lies inzwischen auf dem Hamburger Berg besucht haben. Andererseits hörte Matti viel, so abgeschieden sie scheinbar wohnte, kannte Gott und die Welt, und zumindest die halbe Welt hatte Grund, ihr dankbar zu sein.
    Diesmal hatte Matti selbst ein Anliegen. Apotheker Leubold beim Opernhof, so schrieb sie, sei durch den plötzlichen Tod seines Gesellen in Bedrängnis.
    Ich kenne ihn seit einem guten Jahr, er kauft von meinen gesammelten Kräutern, Samen und Wurzeln. Falls es Dir möglich ist, meine liebe Rosina, kannst Du vielleicht ein wenig bei ihm aushelfen? Du bist verständig und beherrschst sicher noch genug Latein, um ihm wirklich zur Hand zu gehen, anstatt nur mehr Unordnung zu schaffen. Natürlich solltest Du Dich dort nur bei hellem Tag aufhalten, und Dein fürsorglicher Magnus wird Dich sicher gern abholen und auf dem Heimweg begleiten.

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