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Die Nacht des Schierlings

Die Nacht des Schierlings

Titel: Die Nacht des Schierlings Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Petra Oelker
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recht tief, das Licht gab der Stadt trotz des gewöhnlichen Trubels am Tor etwas zugleich Trutziges und Geheimnisvolles.
    «Setzen wir uns ein wenig», schlug Rosina vor und zeigte auf einen halb von Gras überwucherten Buchenstamm. «Bald wird es mit den milden Tagen vorbei sein, und der Blick ist hier wunderbar weit.»
    «Ihr seid so viel in der Welt herumgekommen», sagte Molly, «ich war immer nur hier. Ich bin hier geboren, und wahrscheinlich», ein tiefer Seufzer entrang sich ihrer Kehle, «werde ich auch hier begraben. Dabei sähe ich gerne mehr von der Welt.»
    «Das weiß man nie, das Leben kann überraschend sein. Und wie gut, dass Ihr jetzt hier seid, in diesen Tagen hat Eure Mutter keinen Trost als Euch.»
    «Ich hoffe, dass ich ihr ein Trost bin, sie spricht wenig und erscheint mir – wie soll ich es nur sagen? So allein? Dabei sind wir doch alle da. Sie müsste nur die Hand ausstrecken.»
    Rosina sah hinaus auf den Fluss. «Trauer kann sehr einsam machen», sagte sie leise, «und sehr starr.»
    Molly hörte es nicht, sie war mit ihren Gedanken ganz bei sich. «Alles war in der letzten Zeit wieder gut, so dachte ich. In den ersten Monaten des Jahres, also bevor ich zu den Herrmanns zog, war nämlich alles – nicht alles gut. Ja, es ging auch um Mutters neuen Ehemann. Sie dachte, ich sei eifersüchtig auf Hofmann, was Unsinn war, ich konnte ihn aus gutem Grund nicht leiden. Irgendwann machte sie im Streit eine seltsame Bemerkung, ich weiß nicht einmal mehr genau, was es war, irgendetwas, das mit dem Waisenhaus zusammenhing, danach dachte ich, nun habe sie sich endlich verplappert, ich sei nicht ihr Kind. Verrückt, nicht wahr? Ich weiß, solche Sachen denken Kinder manchmal, ich hatte auch schon früher daran gedacht und es immer als Spintisiererei abgetan, als Unsinn. Ich habe im Frühjahr sogar mit Madam Augusta darüber gesprochen.»
    Rosina hatte Molly aufmerksam zugehört, nun regte sich etwas in ihrem Kopf, etwas, wonach sie schon im Sommer Matti hatte fragen wollen, dann aber völlig vergessen hatte. Auch als es ihr vor einigen Tagen auf dem Weg zu Matti und Lies just wieder einfallen wollte, war Magnus gekommen, und anderes hatte Vorrang gehabt.
    «Wahrscheinlich denke ich jetzt nur daran, weil ich dort drüben in der St. Paulikirche getauft bin», erklärte Molly. «Meine Eltern haben …», sie verstummte, stand auf und blickte sich suchend um, «haben damals hinter der Sternschanze gewohnt, bei Eimsbüttel. Natürlich kann man es nicht sehen, es ist zu weit. Wieso aber bin ich dann hier getauft worden?»
    «Das kann einen ganz simplen Grund haben. Vielleicht war der Pastor dort krank, oder es gab gerade keinen. So was kommt vor.»
    «Möglich.» Molly setzte sich wieder, den Blick starr geradeaus gerichtet. «Es kam aber noch mehr hinzu. Mir war da etwas abhandengekommen, aus der Truhe in meiner Kammer, das mir sehr wichtig war. Nämlich die einzige Erinnerung an meine ersten Lebenswochen. Sicher ist es töricht. Daran braucht man keine Erinnerungsstücke, wo so viele Kinder in ihrem ersten Jahr sterben, reicht es, wenn man lebt. So hat Elwa gesagt, unsere Hausmagd. Nicht, dass ich es alle Tage angesehen hätte, aber es lag unten in der Truhe, und es war eben irgendwie wichtig.»
    «Natürlich war es das. Ich habe auch ein Erinnerungsstück an meine ersten Jahre. Und es ist mir sehr wichtig. Verratet Ihr mir, was es war, das in der Truhe weit unten gelegen hat?»
    «Ach, nur ein Kinderhemd, ein ganz winziges. Es hatte ein eingesticktes Monogramm. Als Kind habe ich es mir oft angesehen, so wie kleine Mädchen es tun, wenn sie mit ihrer Puppe spielen, dann lange nicht mehr. Plötzlich erinnerte ich mich wieder, als habe es jahrelang in meinem Hinterkopf gewartet, dass die Buchstaben nicht ganz stimmten. Als ich es holen wollte, um es noch einmal anzusehen, da war es verschwunden. Niemand im Haus hatte es gesehen, niemand wusste darum. Dann habe ich meine Mutter nach den eingestickten Buchstaben gefragt. Sie hat gesagt, natürlich seien es ein M für den ersten meiner drei Vornamen, Magdalena Maria Antonia, und ein R für Runge. So steht es auch auf meinem Taufschein.»
    «Euer dritter Vorname ist tatsächlich – Antonia?» Rosina war plötzlich hellwach. Und höchst ungeduldig. «Egal. Jedenfalls stimmte nicht, was Eure Mutter sagte?»
    «Das stimmte ganz sicher nicht. Es waren ein M und noch ein M. Ich weiß es genau. Inzwischen denke ich, vielleicht stehen sie für Magdalena und

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