Die Nacht des Schierlings
auch nur ein Traum waren – und der Alte hortete eine heimliche Reserve! Groß genug, einen Rubin zu kaufen. Einen Edelstein aus der ostindischen Erde.
«Wo», stieß Leubold hervor, «wo ist der Stein, und wo kommt er her?»
«Das ist ein Geheimnis. Aber ich habe einen treuen Boten, überhaupt ist er der Vermittler. An so ein Steinchen kommt man ja nicht so leicht, wenn man diese Raubritter von Goldschmieden umgehen möchte. Der Graf …»
«Der Graf», donnerte Leubold, «der Graf? Dieser junge Schnösel, der sich ständig hier rumdrückt und sich in den Gerüchten sonnt, die umgehen? Ich habe es doch gewusst! Rauswerfen hätte ich ihn müssen. Es war klar, dass er Ihnen nicht helfen, sondern von Ihnen profitieren wollte. Nicht die Goldschmiede sind die Raubritter, dieser junge Herr ist einer. Wo, hat er gesagt, will er den Rubin mit Ihrem Geld denn kaufen? Woher holt er ihn?»
Friedrich Reuther sah mindestens so wütend aus, wie sein aufgeregter Neffe klang. «Ich verbitte mir so viel Ignoranz, Gerrit», forderte er mit kühler Würde. «Die Güte meiner Menschenkenntnis ist allgemein bekannt, außerdem lehnt der bescheidene Mensch es ab, sich Graf nennen zu lassen. Wenn du es genau wissen willst, er hat einen Mittelsmann am Hof von Celle, da, wo die unglückliche dänische Königin Caroline Mathilde seit dem vergangenen Jahr ihr Exil fristet. Sie verkauft günstig ihre Juwelen, das ist ein Geheimnis und muss eines bleiben. Ein Geheimnis, ja, das hat er gesagt.»
«Und dann ist er in die Postkutsche gestiegen und hat die Stadt verlassen? Mit Ihrer ‹heimlichen Reserve›, nehme ich an.»
«Zu Pferd», Friedrich Reuther sah nun doch ein wenig blass aus, «er hat einen recht manierlichen Fuchs. Aber nun frage ich mich doch, warum er seine Violine mitgenommen hat. Recht unbequem im Sattel.» Reuther sah sich ratlos um, als liege die Lösung seines Problems in den vollgestopften Regalen des Laboratoriums. Dann klatschte er leicht in die Hände, rieb sie gegeneinander und schnalzte missbilligend. «Dieser junge Spitzbube», sagte er kopfschüttelnd und ein ganz kleines bisschen bewundernd, «hat mich alten Fuchs einfach reingelegt. Denkst du das, Gerrit? Ich weiß es nicht, kann gut sein, er ist in zwei oder drei Wochen wieder hier. Mit dem Rubin. Du bist viel zu misstrauisch, wie immer. Und wenn er nicht zurückkehrt? Ja, was dann? Ach, man soll nicht so am Besitz kleben, das macht nur missmutig und geizig. Schwarze Galle. Dann wird mein Theriak eben ohne Rubin volle Kassen bringen. Es muss ja keiner wissen, dass der Zauberstein fehlt, was?»
Gerrit Leubold hörte sich lachen und staunte. Er hoffte, wenigstens ein Quäntchen von der unmöglichen Leichtherzigkeit dieses verrückten Alten geerbt zu haben.
Die würde er brauchen, der junge Graf, der nie so genannt werden wollte, war gleich nach der Elbüberquerung nach Westen abgebogen. Seltsam, wo Celle doch im Süden lag. Sicher machte er nur einen kleinen Umweg.
«I ch glaube, ich kenne Madam Matti», überlegte Molly. Sie hatten die äußere Brücke des Millerntores passiert, vor ihnen lag das bis Altona noch wenig bebaute, vom Turm der St. Paulikirche überragte Land. «Doch, ich bin sogar sicher, sie kam ab und zu und hat etwas gekauft. Immer nur eine Kleinigkeit. Sie war sehr freundlich, und wenn ich gerade im Laden war, hat sie nach meinem Befinden gefragt, als interessiere es sie wirklich. Wieso kenne ich eigentlich ihren Namen und weiß um ihren Beruf? Von Elwa wohl. In der letzten Zeit kam sie nicht mehr. Komisch, das fällt mir erst jetzt auf.»
«Vielleicht ist ihr der Weg zu beschwerlich geworden», gab Rosina zu bedenken. «Sie ist recht alt.»
«Vielleicht. Aber in den vergangenen beiden Jahren sind einige weggeblieben, die meinen Vater sehr geschätzt haben.» Mollys Worte klangen gestelzt.
«Wie bedauerlich», sagte Rosina, «vielleicht auch, weil sie den neuen Meister nicht so sehr geschätzt haben?»
Ein schüchtern zustimmendes Lächeln glitt über Mollys rosiges Gesicht, aber sie antwortete nicht. Nachdem sie die stark frequentierte Straße für den Uferweg verlassen hatten und eine Weile schweigend nebeneinander hergegangen waren, blieben sie am Hochufer stehen. Anders, als es Rosina gewöhnlich tat, blickte Molly nicht über den Fluss, sondern zurück auf die mit Ulmenreihen bestandenen Wälle, die roten Dächer und kupfergrünen Türme. Die Sonne war verhangen und blass und stand so spät im Jahr selbst um die Mittagszeit
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