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Die Nacht des Schierlings

Die Nacht des Schierlings

Titel: Die Nacht des Schierlings Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Petra Oelker
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versonnen, «dass du auch schon da warst. Du warst vom ersten Tag ein besonders liebenswertes Kind.»
    Molly sah die alte Hebamme an, nur Verwirrung im Blick. «Ich verstehe das alles nicht», flüsterte sie, «ist meine Mutter wirklich nicht meine Mutter?»
    «Sie hat dich nicht geboren, nein, aber sie ist natürlich durch und durch deine Mutter. Deshalb musst du sie danach fragen. Wir waren dumm genug zu denken, dieser Tag werde nie kommen. Aber man kann das Schicksal nicht betrügen. Unsinn, das ist nur einer dieser dummen, bigotten Sprüche. Das Schicksal, so es eines geben sollte, betrügt selbst und wird alle Tage betrogen. Ich glaube eher an Zufälle. Und nun trinkst du deinen Tee, iss von den getrockneten Aprikosen und Apfelringen, die geben dir schnell wieder Kraft, und atme ein paarmal tief und ruhig. Ach, ich gebärde mich schon wieder wie ein Physikus. Ruh dich aus Kind, ich gehe inzwischen für ein paar Minuten mit Rosina zu Lies in den Garten. Dann solltet ihr zurückgehen, deine Mutter wird sich sorgen. Am besten, Rosina begleitet dich, sie ist recht brauchbar in schwierigen Situationen. Sogar diskret, wenn es darauf ankommt. Schieb es nicht auf, Molly, frag sie danach. Es ist eine traurige, aber auch eine gute, sogar eine sehr gute Geschichte. Und wenn du magst, kommst du in einigen Tagen wieder her und kannst auch mich alles fragen. Aber deine Mutter hat das Recht, dir eure Geschichte zuerst zu erzählen.»
    Matti schloss die Tür hinter sich und Rosina und zog sie in die Küche. «Wir gehen gleich zu Lies», flüsterte sie, «mich erschreckt das alles sehr. Denkst du, Hofmanns Tod hat mit alldem zu tun? Und der Tod dieses armen Jungen in Leubolds Apotheke?»
    «Ich habe keine Ahnung, Matti, wirklich. Aber das kann doch nicht alles zufällig zusammenfallen – auch wenn du eher an Zufall als an Schicksal glaubst. Ich glaube an Zusammenhänge, die man finden muss, oft genug erweist sich dann, dass ein Zufall gar keiner ist. Du warst nicht mehr in der Konditorei, seit Meister Hofmann dort Einzug gehalten und das Zepter übernommen hatte, nicht wahr?»
    «Suchst du wieder Zusammenhänge? Molly war erwachsen», erklärte Matti spröde, «sie war eine kluge und liebenswerte junge Frau geworden. Ich musste mir keine Vorwürfe mehr machen, weil ich an einem Betrug beteiligt war und womöglich Unheil angerichtet hatte. Bis der gute Runge starb, war alles wunderbar. Er war so ungeheuer stolz auf seine Tochter. Und Antonia, ach, Rosina, das war ein solches Drama. Sie war so jung und so verlassen, dieser ruchlose Kerl hat sich einfach davongestohlen, als sie hochschwanger war. Er ist bei Nacht und Nebel verschwunden. Was sollten wir denn tun, als Antonia gestorben war? Das Kind ins Waisenhaus bringen oder vor ein Kirchenportal legen? Ihrer feinen reichen Familie war sie auf ihre Hilferufe nicht mal eine Antwort wert. Keine Zeile, keine Hilfe, geschweige denn Vergebung. Manchmal bin ich sehr froh, dass ich keine Familie habe.»
     
    S ie hatte warten wollen, bis es Nacht war und das ganze Haus schlief. Doch als alles getan war und die Zeit stillstand, entschied sie, nicht länger zu warten. Womöglich verließ sie doch der Mut, obwohl das ein müßiger Gedanke war. Sie brauchte nun keinen Mut mehr, alles war getan. Vielleicht nicht recht getan, aber – so hoffe sie – richtig getan. Was war recht, wer urteilte? Verurteilte?
    Plötzlich schreckte sie hoch. Wenn sie doch nicht gründlich aufgeräumt hatte? Nicht jedes Messer, jeden Löffel, jedes Brett und Schüsselchen gründlich rein gemacht? Nein, gewiss nicht. Sie war noch gründlicher, noch sorgsamer als sonst gewesen. So lehnte sie sich in ihren bequem gepolsterten Lieblingsstuhl beim Fenster zurück und breitete die wollene Decke über die Knie, zog sie höher, bis über die Taille, denn sie fröstelte. Von ihrem Sessel sah sie über das Fleet, sie liebte diesen Blick über den schmalen befestigten Wasserlauf hinüber zu den Giebeln und in den Himmel. Die jungen Linden könnte sie nur sehen, wenn sie aufstünde und ans Fenster träte, ihre Äste waren nun beinahe kahl, wenige der gelben Blätter hielten noch am Leben fest.
    Sie lächelte über diesen Gedanken, es waren ja nur Blätter, aber doch Lebewesen? Seltsames ging durch ihren Kopf, Dinge, über die sie zeit ihres Lebens nie nachgedacht hatte. Plötzlich schien es ungemein wichtig zu entscheiden, ob diese gelben, herbstlich vergehenden Blätter auch Lebewesen seien. Töricht, dachte sie, als sei das

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