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Die Nacht des Schierlings

Die Nacht des Schierlings

Titel: Die Nacht des Schierlings Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Petra Oelker
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die himmelhohen Bäume zu sehen, von denen sie geerntet wurden, war berauschend. Wobei sie – zugegeben – weniger an die monatelange lebensgefährliche Strapaze der Reise auf einem engen Segler dachte als an das Abenteuer, die Aufregung des Neuen, des Unbekannten. Sicher wäre es schon ein himmlisches Abenteuer, in italienischer Sonne eine reife Orange zu pflücken oder im Hafen von Bordeaux roten Wein zu trinken, die Silhouetten holländischer Städte und Landschaften nicht nur auf alten Gemälden, sondern vom Fenster einer rasch darauf zurollenden Kutsche zu sehen.
    An diesem Abend hatte sie sich endlich gefragt, warum sie nicht nur stolz darauf war, sich nicht nur darüber freute, wenn Claes zum Mitglied des Rats gewählt wurde. Das Amt gab ihr Leben noch mehr der Öffentlichkeit preis, was bedeutete, sich ständig beobachtet zu fühlen. Das passende Gewand zur passenden Stunde, das passende Wort zu den passenden Personen, die passende Miene … das war lästig, aber sie wollte sich Mühe geben. Nein, das war es nicht, das würde schon halbwegs gelingen, und die Zeiten waren selbst in den Jahren, seit sie an die Elbe gekommen war, großzügiger geworden. Vielleicht hatte sie sich auch nur eingewöhnt? Das war jetzt einerlei.
    Es war etwas anderes. Nun, da sie älter wurden und Christian mehr und mehr Verantwortung übernahm, hatte sie gehofft, sie und Claes könnten mehr reisen. Das hatte er immer versprochen, wenn sie am Hafen standen oder von einer der Bastionen beobachteten, wie eine behäbige Bark oder schnelle Brigg Segel setzte und der Wind in die Leinwand fuhr, wie die große Fahrt begann. Nach Italien, hatte er gesagt, erst recht nach dem, was Magnus von Venedig erzählt hat. Und nach Paris. Nach St. Petersburg ebenso. Mit dem Schiff über die Ostsee, das hatte die erste weite Reise sein sollen. Und in einigen Jahren, bevor sie für die Strapaze zu alt wurden, vielleicht noch einmal die unendlich weite Reise zu Sophie, Claes’ jenseits des Atlantik in den amerikanischen Kolonien lebender Tochter.
    Nun war sie nicht mehr sicher, ob sie das gemeinsam so besprochen und geplant hatten oder ob es nur ein leichtes Geplauder gewesen war und sie es dann allein für sich erträumt hatte. Wie lange durfte ein Senator eigentlich verreist sein? Wie lange von seinem Amtssessel im Rathaus fernbleiben?
    Plötzlich schien es ihr das Wichtigste auf der Welt, ihn danach zu fragen. Sie würde einfach wach bleiben. Es war spät, eigentlich hätte er längst zurück sein müssen. Aber ein Abend bei Büsch dauerte immer lange. Es war Unsinn, sich zu sorgen, auch wenn er ihre Bitte, sich von Brooks mit ihrer kleinen Kutsche abholen zu lassen, abgelehnt hatte. Er werde mit Bocholt fahren, hatte er versichert, der lasse seinen Kutscher ganz sicher vor der Tür warten, das tue er doch immer.
    Ja, sie würde einfach wach bleiben, wenn er dann endlich kam, noch ein wenig plaudern oder … da schlief sie schon, tief und fest bis zum Morgen.
     
    D er Betrunkene wohnte tatsächlich in der langen, bis zum Hafen führenden Straße. Junge Linden säumten das in der Mitte verlaufende Fleet zu beiden Seiten, zwischen ihnen stand auf der östlichen Seite vor fast jedem Haus eine wohl zehn oder zwölf Fuß hohe Winde. An den Winden wiederum klemmten griffbereit lange, mit gebogenen Spitzen besetzte Stangen, um die aus den Schuten heraufgehievten Ballen, Säcke oder Tonnen heranzuziehen. Manchmal, wenn einer von den Wegen oder beim Be- oder Entladen der Ewer und Schuten ins Wasser gefallen war, erwiesen sie sich auch als Rettungsstangen.
    Der Gang des Betrunkenen wurde immer stolpernder, er krächzte nicht mehr herum, auch seine schleifenden Schritte waren kaum mehr zu hören.
    Der Lederwarenhändler Lorenzen blickte aus einem Fenster seines Hauses im dritten Stock und schüttelte leise schnalzend den Kopf. Obwohl man bei diesem Wetter und der Entfernung nie sicher sein konnte, glaubte er den Betrunkenen dort unten erkannt zu haben. Was er gesehen hatte, bestätigte ein Urteil, das er kürzlich bei anderer Gelegenheit gefällt hatte. Hatte fällen müssen! Obwohl er es vorzog, seine Nachbarn als ehrenwerte Bürger zu achten.
    Als die Bäume ihm die Sicht auf den Mann nahmen, der sich gerade anschickte, die schmale, Fußgängern vorbehaltene Brücke über das Fleet weniger zu betreten als hinaufzukriechen, schloss er leise das Fenster. Er hörte noch würgende Geräusche, nun erbrach der Kerl sich, hoffentlich nicht in eine der Schuten

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