Die Nacht des Schierlings
als er gedacht hatte. Das Wasser lief nun zwar rasch weiter auf, es erreichte den Toten noch nicht, aber es machte den Schlick noch morastiger, seine Füße auf den Brettern fühlten sich an wie auf zu weich geratenem Pudding. Aber die Winde hatte sich lösen lassen, an dicken Tauen hing eine lederne Doppelschlaufe, wie sie zum hochhieven von großen Tonnen gebraucht wurde. Das war reines Glück.
Töpper war etliche Jahre jünger als Haber, auch stark, zu zweit schafften sie es. Die Schlaufen um den Körper, was doch ein ziemliches Gezerre war, und aufwärts mit dem Fund. Das Leder hielt, der Tote rutschte nicht und fiel nicht zurück in den nun wässerigen Schlick, die Winde quietschte und knarrte kaum. Trotzdem war es erstaunlich, dass niemand sie zu beobachten schien, dem es wert gewesen wäre, in der Dunkelheit auf die Straße zu laufen und zu sehen, was dort vor sich ging. Nicht mal ein Fenster wurde geöffnet.
Als der Tote endlich oben lag, die Lederschlaufen noch um den Leib, versuchte Haber in sein Gesicht zu sehen und wandte sich schnell wieder ab. Im Dämmerlicht und von Schlick beschmiert war es kaum erkennbar, doch Haber hatte eine schreckliche Fratze gesehen, aufgerissene, vom Schlamm verklebte Augen, ein mit verschobenem Unterkiefer halb geöffneter und mit Schlick gefüllter Mund – er würde das nicht so bald vergessen.
Nun war er doppelt froh, dass keine Gaffer um ihn drängten. Er überlegte noch, ob womöglich eine wohltätige Seuche allen Bewohnern der Straße die Neugier ausgetrieben hatte, da schob ein schläfriger Knecht einen zweirädrigen Karren aus der nächsten Toreinfahrt. Haber war erleichtert. Er hatte ebenso wenig Lust, für den Abtransport des Toten in einem der Häuser ein Gefährt zu fordern und so doch noch eine Meute Schaulustiger anzulocken, wie neben dem Toten zu warten, bis Töpper einen Wagen von der nächsten Wache geholt hatte. Bis zum Eimbeck’schen Haus , wo alle auf gewaltsame oder unbekannte Weise zu Tode Gekommenen untersucht werden mussten, war es nicht weit, aber doch zu weit, um einen toten Mann ohne Wagen zu transportieren.
Im Sommer, wenn um diese Zeit längst heller Tag war und das Leben in den Straßen und Werkstätten schon summte, wäre schon ein Heer von Gaffern hier, aber jetzt begannen sich die Türen und Fenster gerade erst zu öffnen. Als hätte eine geheimnisvolle Macht dafür gesorgt, dass die Stadt still bleibe, bis der Tote geborgen war, begann sich nun überall schlagartig das Leben zu zeigen. Sogar auf dem erst zwei Handbreit tiefen Wasser des Fleets wurde eines dieser hier häufig benutzten flachen Boote herangestakt. Hätte er, Haber, nicht just diese Brücke als Rastplatz gewählt, hätte der Mann mit der Stake den Toten gefunden. Oder, falls auch er noch schläfrig war, übersehen. Jetzt beachtete er nicht einmal, was oben auf der Straße vor sich ging.
Haber sah dem Mann in seinem Boot nach. Wenn so eines früher gekommen wäre, nämlich als es noch dämmeriger gewesen war, hätte er vielleicht darüber nachgedacht, ob der Mann mit der Stake unterwegs war, um den Toten aus dem Schlick zu holen. Und zwar bevor er von jemand anderem entdeckt wurde. Zu holen und verschwinden zu lassen? Das war eine alberne Idee, manchmal fiel ihm so was ein. Sicher, weil er so viele Stunden durch die Nacht lief, nachts war alles anders. Sah anders aus, fühlte sich anders an, nachts war die Angst größer, auch die Sehnsucht. Früher hatte er seiner Frau von seinen nächtlichen Ideen erzählt, Sina hatte dann zumeist unwillig den Kopf geschüttelt und etwas wie «Was du dir immer für dummes Zeug einbildest» gesagt. Sie war eine kluge Frau und durch und durch vernünftig. Wer weiß, wo er ohne Sina und ihre Vernunft gelandet wäre.
Rasch zog er die an der Seite der Karre befestigte Plane über den Leichnam. Er war froh, dass er das Gesicht nicht kannte. Es war völlig verklebt, aber wenn der Mann ihm vertraut wäre, hätte er ihn auch so erkannt. Dessen war er sicher.
Armer Teufel, dachte er, als er Töpper nachsah, der die Karre gemeinsam mit dem Knecht in Richtung Burstah und Große Johannisstraße schob, hoffentlich hat er sich beim Fallen das Genick gebrochen, im Schlick ersticken, in diesem stinkenden Schleim – das ist wahrhaftig ein übler Tod.
Er blinzelte in die weiter aufsteigende Dämmerung, die Möwen zogen schon ihre Runden, ihr Kreischen klang noch halbherzig. Der Wind wehte das zum Frühgottesdienst rufende Glockengeläut von
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