Die Nacht des Schierlings
sie gleich wieder sehr behutsam einen winzigen Spaltbreit zu öffnen. Vergeblich, von unten hörte sie zwar alle möglichen Geräusche, es klang nach dem Zusammenkehren von Scherben, nach Stühlerücken. Stimmen, verständliche Sätze gar, hörte sie nicht. Sie schloss für einen Moment die Augen, um sich das, was sie gesehen hatte, wieder zu vergegenwärtigen.
Da waren die beiden gemauerten, dennoch unterschiedlichen Öfen – brauchte ein Apotheker in seinem Keller gleich zwei? –, die mit gewachsten Tüchern gedeckten Körbe und die Truhe mit den vier Schlüssellöchern – oder fünf? Eine so gut gesicherte Truhe hatte sie jedenfalls noch nie gesehen. Das gut die Hälfte der hinteren Wand einnehmende Regal trug eine Reihe von Büchern, einige sahen uralt und ziemlich schlecht erhalten aus, und Stapel von unordentlichen Manuskripten. In den meisten Fächern lagerten jedoch verschiedenste Gerätschaften und beschriftete Behältnisse, kleine Tonnen und Schachteln aus Metall und Spanholz. Auch Gläser und Kruken, keine so schönen aus Fayence oder Glas wie hier oben in dem Repositorium, also den Regalen der Offizin, dafür etliche in Formen, die Molly nie zuvor gesehen hatte. Besonders die gläsernen Behältnisse, einige dick und bauchig, mit langen, seitlich abstehenden und sehr spitz zulaufenden Tüllen, andere mit einem vorstehenden Kran wie bei einem Wein- oder Schnapsfässchen. Sie erinnerte sich auch an etwas, dass wie eine Presse ausgesehen hatte, ganz sicher an eine Waage.
Und dann die Gestalt im Halbdunkel der hinteren Ecke des Raumes. Molly war nicht ganz sicher, aber – doch, sie war sicher. Obwohl sie ihn nur einmal gesehen hatte. Es war vor dem König von England beim Hannöverschen Posthaus an der Hohen Brücke gewesen, einem der honorigen Gasthäuser mit einer Weinstube, in der auch Bruno Hofmann einkehrte, wenn er in besserer Gesellschaft war und Eindruck machen wollte. Dort begann und endete die Reise mit der Königlich-Britannischen Post. Molly war auch an jenem Tag mit dem Korb unterwegs gewesen und auf der ausgefahrenen Straße gestolpert. Just dieser Mann, der nun im Keller des Apothekers und dessen seltsamen Oheims stand, hatte ihren Arm gegriffen und so verhindert, dass sie samt ihrem Korb im Straßenschmutz landete. Dann war er, den Geigenkasten in der Linken, als Letzter in die Postkutsche gestiegen und mit ihr davongerollt.
Sie hätte kaum mehr daran gedacht, hätte nicht die der Kutsche nachseufzende Königswirtin ihr zugeraunt, sie könne sich glücklich schätzen, wer von diesem Mann berührt werde, lebe zumindest ein paar Jahre länger, als das Schicksal vorsehe, mit Glück ein Jahrzehnt und mehr. Er spiele nämlich nicht nur engelsgleich auf der Violine, vor allem habe der Graf besondere Kräfte und sei im Besitz unerhörter Geheimnisse.
Molly hatte von diesem Mann gehört, wie jeder in der Stadt, aber sie neigte wenig zu solchem Aberglauben und hatte gelacht. Trotzdem war ihr ein Schauer den Rücken hinuntergerieselt, vielleicht doch wegen dieser obskuren Kräfte, vielleicht nur wegen des Blicks aus seinen schilfgrauen Augen. An jenem Tag hatte sie ebenso wenig wie heute zu entscheiden gewusst, ob dieser Blick betörend oder bedrohlich gewesen war. Was allerdings häufig ein und dasselbe ist, wie jede Frau von halbwegs klarem Verstand wusste.
Und nun stand er im nachtblauen Seidenrock, mit zerzaustem, gleichwohl immer noch elegant frisiertem, kastanienbraunem Haar im Schatten eines roh gezimmerten Schrankes im Souterrain der Apotheke. Ein schöner Mann von jugendlicher Frische, was besonders beachtlich war, da er einst mit Moses vor den Ägyptern durch das Rote Meer geflüchtet war. Der in ganz Europa so berühmte wie berüchtigte Graf von Saint-Germain war im Besitz des Geheimnisses der ewigen Jugend. So hieß es jedenfalls. Tatsächlich sah er außerordentlich frisch und gesund aus.
C laes Herrmanns bereute seine Generosität. Die Laternenträger hatten lange auf sich warten lassen, die wenigen, die so spät in der Nacht noch ihre Dienste anboten, waren sehr gefragt. Als sie endlich kamen, waren es statt der gewünschten drei nur zwei. Er hatte die Männer mit dem Licht gleich den beiden Gästen überlassen, die sich ebenfalls auf den Heimweg machten, aber in andere Richtungen gingen. Brenners Wohnung lag hinter dem Kalkhof kurz vor dem Dammtor, Lohmanns nahe St. Petri. Tatsächlich hatte er selbst den weitesten Weg. Von der Neustädter Fuhlentwiete bis zu seinem Haus
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