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Die Nacht des Schierlings

Die Nacht des Schierlings

Titel: Die Nacht des Schierlings Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Petra Oelker
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Alarmratsche aus dem Gürtel und ließ noch einmal den Blick herumwandern, pflichtbewusst, rasch, geübt – und entdeckte, was vor wenigen Minuten noch die Nacht in ihren Schatten verborgen hatte. Unten, wenige Fuß von der Brücke entfernt, lag etwas. Kein Etwas, das war ein Mensch, sicher ein Mann. Es war auflaufendes Wasser, noch waren die Schlickstreifen im Fleet breiter als das Wasser in ihrer Mitte. In einer oder anderthalb Stunden war es wieder bis zu den hölzernen Uferbefestigungen gestiegen, weitere zwei Stunden später hoch genug für die beladenen Schuten und Boote. Es fielen oft Leute ins Wasser, kaum jemand konnte schwimmen, so war das eben an der Küste, der hier hatte Glück gehabt, zumindest eine Chance. Im Schlick ertrinkt man nicht.
    «Töpper», rief er, nicht zu laut, noch gab es keinen Grund, die Nachbarschaft aufzuwecken, und rannte zurück auf die Straße. Zwischen den nächsten beiden Winden waren Leitersprossen in die hölzernen Vorsetzen eingebaut, es gefiel ihm nicht, aber da ging es hinunter ins Fleet. Er zerrte seinen hinderlichen Mantel über Schultern und Arme, ließ ihn wie den Hut einfach fallen und sah sich suchend um.
    «Was is’ denn los?» Töpper hatte tatsächlich gedöst, er rappelte sich ächzend auf und trat zu Haber an den Rand des Fleets. «So ’n Mist», nuschelte er, «konnte der nicht ins Fleet stolpern, wenn unser Dienst zu Ende ist? Nur ’ne gute Stunde später?»
    Haber hörte nicht auf das Genörgel. «Ich geh runter», entschied er, «du prüfst, ob du die Winde lösen kannst. Wenn der Mann nicht bei Besinnung ist, müssen wir ihn raufziehen, ist doch klar. Von hier sieht er jedenfalls nicht so aus, als könnte er selbst wieder nach oben. Oder willst du ihn dir auf die Schulter laden? Na also.»
    Haber griff eines der kurzen Bretter, die neben dem Abstieg aufgestapelt lagen (ein Wunder, dass die keiner geklaut hatte – vielleicht waren ihre nächtlichen Runden doch nicht vergeblich) und ließ es genau neben dem Ende der untersten Sprosse auf den Schlick fallen. Ein seltsam schrilles Quieken folgte, etwas platschte leise, beinahe lautlos ins Wasser, und Haber schluckte. Ratten, große, gefräßige Tiere. Ein schlechtes Zeichen. Er hoffte, sie waren nicht im Rudel angerückt und dass sie die Beute erst vor wenigen Minuten entdeckt hatten. Von oben hatte er sie nicht gesehen, aber das sagte wenig, sie waren dunkel wie der Schlick.
    Er klemmte sich ein zweites Brett unter den Arm und kletterte selbst damit, flinker, als man es bei einem grauhaarigen Mann von behäbiger Statur erwarten konnte, die Sprossen hinunter. Es war immer noch dunkel, der widerwärtig modrige Gestank kroch ihm in die Nase, er setzte den Fuß auf das schon unten liegende Brett, platzierte das zweite so, dass er sich neben den Mann hocken konnte. In zwei oder drei Fuß Entfernung verharrten zwei dunkle Silhouetten, anderthalb Handspannen lang, mit kleinen, schwarz glänzenden Augen. Dann glitten sie davon, bewegten sich über den Schlick und fanden irgendwo einen Aufstieg zurück auf die Straße. Womöglich durch eine Zuflussrinne oder direkt die Holzvorsetzen hoch, Haber hatte selbst so große Tiere schon fast senkrechte Wände hinaufrennen sehen.
    Kurios, dachte er, die hauen einfach ab, haben sich wohl auch nicht gütlich getan. Er war rechtzeitig gekommen, sie zu verscheuchen, und vielleicht hatte der Mann – «der Tote» wagte er noch nicht zu denken – etwas an sich, das die Viecher störte. Das stank oder ihnen nicht schmeckte. Er hatte von solchen Fällen gehört.
    Es war ein Mann, das erkannte Haber nun genau. Er lag nahe der Leiter, die Arme ausgestreckt, als habe er versucht, den Aufstieg zu erreichen. Aber das Gesicht lag fest im Schlick. Der Nachtwächter war viel gewöhnt, nachts passierten die widerwärtigsten Dinge, er hatte auch viele Tote gesehen, die wenigsten in gutem, äußerlich unversehrtem Zustand. Aber dieser Kopf mit dem Gesicht im Schlick ließ ihn nach Luft schnappen. Der Mann musste da raus, selbst wenn ihm schnelles Handeln nicht mehr helfen würde. Der Tote – wer so im Schlick lag, lebte nicht mehr, und die Haut am Nacken, da, wo Rock und Hemd verrutscht waren, war eiskalt.
    Er sah zu Töpper hinauf, der beugte sich oben über den Rand, genau an der richtigen Stelle. Es dämmerte nun, das war gut, er musste sehen, was er tat. Es war nur ein Versuch, wenn der misslang, mussten sie Verstärkung holen, Wachsoldaten, gleich vier oder fünf. Aber es ging leichter,

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