Die Nacht des Schierlings
und Ruderboote, die bei den Stiegen an den befestigten Ufern des Fleets festgemacht waren. Er dachte daran, seinen Hausdiener zu wecken, damit er die Saufnase da draußen sicher heimbrachte, auch bevor ihn die Nachtwache schnappte. Aber gerade als er das Fenster schloss, kam jemand vom Heilig-Geist-Hospital heran, der würde ihm schon helfen, womöglich war es gar einer seiner Kumpane. Überflüssig, Cordt zu wecken. Der war nicht mehr der Jüngste und brauchte seinen Schlaf, bis er morgen in aller Frühe seinen Dienst antrat.
Lorenzen streifte den samtenen Schlafrock ab, zog sich die Nachtmütze über die Ohren und kroch fröstelnd zu seiner Frau unter die Decke, in diesem Moment ausnahmsweise zufrieden mit der Ehehälfte, die Gott und seine Mutter für ihn seinerzeit ausgesucht hatten. Sie war gewiss keine Venus, aber sie hatte fünf Geburten überlebt, war bescheiden, verlangte höchst selten nach Kaffee, kleidete sich vornehm, aber nie teurer als nötig und aß mit gutem Appetit, sie war arbeitsam und trank niemals – Gott bewahre! – Branntwein. Was konnte ein Mann mehr verlangen?
Wäre er nicht umgehend eingeschlafen, hätte er vielleicht noch ein dumpfes Platschen gehört, einen Fall. Der Mann auf der Brücke vermochte in seinem wirren, benebelten Geist nicht zu entscheiden, ob er einfach über das Geländer fiel, nachdem er sich erbrochen hatte, oder ob es so leicht, geradezu befreiend war, weil jemand half – wer sollte das schon tun? –, er spürte ja seine Beine, seinen halben Körper kaum mehr. Kein Wasser spritzte auf, als er im Fleet landete, das mündete in den Elbhafen. Wenn es bei Ebbe auch nicht ganz trockenfiel, ließ das ablaufende Wasser an den Rändern breite Streifen von klebrigem Schlick auftauchen. So fiel er wenigstens halbwegs weich, was kein Trost mehr war.
KAPITEL 3
F ür die Nachtwächter, deren Arbeit sich nach dem Lauf der Sonne richtete, war wieder die Zeit der langen Dienststunden angebrochen. Wie stets, wenn der Tagesanbruch hinter dem Horizont schon zu erahnen war, die Nachtschwärze sich mit ersten Grautönen zu vermischen begann, ließ die Müdigkeit Wilhelm Haber frösteln, er spürte nagenden Hunger, und seine Füße schmerzten. Trotzdem vermied er es, sich für die letzte Verschnaufpause der langen Nacht ein bequemes Plätzchen zu suchen, denn dann würde er umgehend einschlafen. Lieber blieb Haber auf der schmalen Brücke über dem Fleet stehen, wenn seine letzte Runde ihn den Rödingsmarkt entlangführte, und stützte die Arme auf das Geländer, um ein bisschen zu verweilen. Das war ihm Pause genug.
Sein Amtsgenosse Töpper, die Nachtwächter gingen immer zu zweit, mochte sich inzwischen bei den holländischen Winden niederkauern und einnicken. Haber stand lieber auf der Brücke und blickte das Fleet hinunter zum Hafen, stellte sich vor, wie der Nachthimmel über dem Meer aussah, weit draußen, wo man schon seit Tagen kein Land mehr gesehen hatte und wo es selbst in der Nacht heller war, wo man den reinen Geruch und die Unendlichkeit atmete. Sosehr er diese Vorstellung mochte, so wenig hatte er zu seinem und seiner Familie Glück die Sehnsucht verspürt, tatsächlich auf einem der Schiffe anzuheuern, die die Elbe hinunter bis Stade oder Cuxhaven und immer weiter in die fremde Welt hinaussegelten, vielleicht ohne Wiederkehr.
An diesem Morgen war es für den Blick bis zum Hafen mit seinem Gewirr der Masten und Rahen zu diesig, was bei Nachtwächtern höchst unbeliebt war, weil es jeder Art von obskurem Gelichter Schutz gab. Er mochte es trotzdem, denn heimlich hatte er eine empfindsame, der Melancholie zugeneigte Seele. Der Nachtdunst, wenn er nicht zu dick wurde auch der Nebel, gab der Stadt etwas Geheimnisvolles. Dumme Gefühlsduselei, nächtliche Geheimnisse bedeuteten selten Gutes, wer wusste das besser als ein altgedienter Nachtwächter. Haber reckte die steifen Schultern, bewegte die Zehen in den breiten Stiefeln und beschloss, nun sei genug pausiert. Es war gegen fünf Uhr, eine gute Stunde vor Sonnenaufgang, die Stadt regte sich, und auch hier, in den Häusern überwiegend wohlhabender Bürger, glommen hinter einigen Fenstern Kerzen und Öllampen auf. Wie häufig nach einer nächtlichen Flaute frischte der Wind plötzlich auf, und Haber dachte weniger an die Geheimnisse der Stadt oder die Abenteuer ferner Länder als an sein Bett, das noch Sinas Wärme hielt und auf ihn wartete.
Er nahm seine gegen das Geländer gelehnte Pike wieder auf, zog die
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