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Die Nacht des Schierlings

Die Nacht des Schierlings

Titel: Die Nacht des Schierlings Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Petra Oelker
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am Neuen Wandrahm war es ein ordentlicher Marsch, besonders mitten in der Nacht.
    Als er sich am frühen Abend von Anne vor Professor Büschs Haus absetzen ließ, hatte er darauf gezählt, für den Heimweg einen Platz in Bocholts Chaise zu bekommen, aber sein alter Freund hatte sich für diesen Abend mit einer Unpässlichkeit entschuldigt. Unpässlichkeit! Claes Herrmanns schmunzelte – mit den Jahren wurde Bocholt wahrhaftig zum Hypochonder. Dabei hatte er solcherlei modische Empfindungen gern verspottet, knochentrocken, wie es seine Art war, seit sie gemeinsam die Bank in der Lateinschule gedrückt hatten.
    Herrmanns zog seinen Umhang fester um den Oberkörper und schritt kräftig aus. Es war wirklich verflucht dunkel, wenigstens fehlten noch ein paar Tage bis Neumond, der gute Geselle am Himmel zeigte sich als Sichel, was besser war als nichts, sogar wenn sie sich hinter Wolkenschleiern verbarg. Er hörte eine Kutsche näher kommen, einspännig, das verriet der Klang, sicher eine Droschke. Falls sie leer zurück zur Remise unterwegs war, konnte er sie anhalten. Aber die Kutsche, ein vornehmes Gefährt mit einem Wappen auf dem Schlag und einem boshaft auf ihn herabgrinsenden Lakaien auf dem Rückbrett, rollte rasant vorbei, er konnte sich gerade noch in einen Hauseingang drücken.
    Leise fluchend eilte er weiter. Man ging in der Dunkelheit nicht ohne Laterne durch die Straßen, es konnte aus gutem Grund nach zehn Uhr ein Strafgeld kosten. Trotz der ansehnlichen Truppe von Nachtwächtern war es gefährlich, da trieb sich nun mal trübes Gesindel herum, kroch aus seinen Löchern auf der Suche nach einem, dem sie die Taschen leeren oder gleich den ganzen Rock abnehmen konnten. Samt Weste, Hemd und Schuhen! Wer ohne Laterne ging, war unvernünftig oder verdächtig, selbst zum Gesindel zu gehören. Also ging, wer klug war, weder alleine noch ohne Laterne durch nächtliche Straßen. Was allerdings genau das war, was er gerade tat.
    Nach diesem anregenden und seiner Eitelkeit – ja, auch das, er gestand es sich ein – schmeichelnden Abend war er besonders gut gestimmt gewesen, was ihn immer ein wenig leichtfertig machte, der Rotspon hatte ein Übriges getan, und er hatte gedacht, an der Graskellerbrücke bei der Neuen Wallstraße einen Laternenträger zu bekommen. Dort warteten immer welche auf Kundschaft. Heute nicht.
    Obwohl diese Straßen äußerst unregelmäßig gepflastert waren, argwöhnte Claes Herrmanns fremde Schritte zu hören, die ihm folgten und sich den seinen anglichen. Er verwarf den Gedanken energisch, doch das Unbehagen blieb. Wie in vielen Herbstnächten stieg aus den Fleeten dichter werdender feuchter Dunst auf, behinderte die Sicht und malte Trugbilder, hielt den alles überlagernden Geruch aus den Braukesseln vom nahen Rödingsmarkt fest. Claes Herrmanns war kein Hasenfuß, es war nur vernünftig, sich allein mitten in der Nacht in sichtbar teuren Kleidern unbehaglich zu fühlen.
    Am Ende der Brücke und beim Hospital zum Heiligen Geist standen je zwei Laternen, ihr funzelig brennendes Rüböl gab mehr Trost als Licht. Er blieb dennoch unter einer stehen, als er von irgendwoher einen Nachtwächter rufen hörte: «… und die Uhr hat elf geschlagen.» Und nun schlugen auch die Uhrglocken von St. Nikolai. Der Mann konnte nicht weit sein. Die dunstige Luft machte es schwer, zu erkennen, aus welcher Richtung er sich näherte. Und ob er sich überhaupt näherte oder entfernte. Nun war nicht der richtige Moment für falschen Stolz, falls er kam, konnte er den Mann bitten, ihn bis zum nächsten Warteplatz der Laternenträger zu begleiten. Der Wächter durfte seine Route nicht verlassen, aber irgendwo an dieser Route mussten doch …
    Ein heiserer Ruf ließ ihn erschreckt herumfahren. Nun hörte er auch Schritte, ganz nah und leise, und genau das war es, was ihn erschreckte, als dieses Schleichen in sein Bewusstsein drang. Dieses Leise. Es konnte nicht zu dem Rufen gehören, das war noch nicht so nah. Er hielt den Atem an und lauschte. Wie konnte eine so große Stadt mit so vielen Menschen und Tieren nur so still sein?
    Wo waren die Schritte nun? Wahrscheinlich waren es gar keine gewesen, die Nacht gaukelte manches vor, was nicht existierte, besonders nach dieser Karaffe Rotspon. Zukünftig sollte er sich weniger über Bocholts Hypochondrie amüsieren. Doch, da waren wieder Schritte. Laut diesmal, noch ein Stück entfernt, gleichwohl eindeutig, da passierte jemand die Ellerntorbrücke, wie er selbst vor

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