Die Nacht des Schierlings
einigen Minuten. Es waren ungleichmäßige Schritte, und er atmete erleichtert aus. Da kam nur ein Betrunkener angetorkelt.
Etwas Weiches berührte seine Wade, diesmal erschrak er nicht, er hatte die Katze kommen sehen, sie war rotweiß, was ihn beruhigte. Als vernünftiger Mensch lag ihm der Glaube an Unglückszeichen wie schwarze Katzen fern, aber man konnte ja nie wissen, besonders in einer solchen Nacht. Wie um sich selbst seine Gelassenheit zu beweisen, beugte er sich zu dem schnurrenden Tier hinunter und strich ihm über den Kopf. Es sah nicht wie ein von Flöhen geplagter Streuner aus, mehr nach einem geliebten sauberen Kätzchen.
Der Nachwächter war nicht mehr zu hören, nur diese andere, heiser und gepresst klingende Stimme. Sie war nun ganz nah, er machte sich besser wieder auf den Weg. Ein krakeelender Betrunkener war keine Bedrohung, so einer fiel beim kleinsten Stups um, aber auch keine angenehme Begegnung. Schon zu spät. Die Katze sprang fauchend davon, er sah auf, und da stand der Mann direkt vor ihm, schwankend und schwerfällig mit den Armen rudernd. Er versuchte etwas zu sagen, der Branntwein hatte seine Zunge schwer gemacht und erlaubte nur lallendes Krächzen. In der Dunkelheit erschien das Gesicht des Mannes als fahler Fleck mit aufgerissenen Augen und sabberndem Mund. Zweifellos würde er in einer der nächsten Ecken zusammensacken und dort seinen Rausch ausschlafen. Kein Grund zur Sorge, selbst wenn die Nachtwächter ihn nicht fanden, zur nächsten Wache schleppten und einkerkerten, die Nacht war wohl frisch, aber keinesfalls kalt genug, dass jemand erfröre.
«Geh nach Hause, Kerl», herrschte er den Trunkenbold an, und als der einen Arm nach ihm ausstreckte: «Hau ab! Verschwinde!»
Er stand mit dem Rücken zur Mauer des Hospitals, und bevor er ausweichen konnte, krallte sich schon die Hand des Mannes mit überraschender Kraft in seinen Rock. Stinkender Atem schlug ihm entgegen. Er stieß den ekligen Kerl angewidert zurück, entwand ihm mit einem Ruck seinen Rock, hörte ein Reißen und eilte mit langen Schritten weiter.
Noch einmal blickte er über die Schulter zurück, es war gutgegangen, sein Stoß hatte den Kerl schwanken und den Weg frei machen lassen, ihn aber nicht auf die Straße geworfen, wo er womöglich liegen geblieben und von einer späten Kutsche überrollt worden wäre. Der Mann konnte sich in seiner Trunkenheit kaum auf den Beinen halten, er trottete nun schwankend weiter und bog in den Rödingsmarkt ein. Sicher wohnte er dort.
Plötzlich begriff Herrmanns, warum ihm das Gesicht selbst in der von der Laterne kaum erhellten Dunkelheit vage bekannt vorgekommen war, und blieb stehen.
A nne Herrmanns klappte ihr Buch zu, strich liebevoll über den schon etwas abgestoßenen Einband und legte es auf den Nachttisch. Sie war schon vor einer guten Stunde zu Bett gegangen, ihre Augen waren müde, es war längst Schlafenszeit. Sie schob sich das Daunenkissen zurecht, blinzelte in das Licht der drei Kerzen im Leuchter und dachte flüchtig daran, wie angenehm es doch war, diesen Luxus als selbstverständlich nehmen zu können.
Es nützte nichts.
Sie hatte in ihrer englischen Ausgabe des Robinson Crusoe gelesen, eines der Bücher, die sie besonders liebte, und es war kein Wunder, wenn sie ausgerechnet Daniel Defoes berühmten Roman aus der Truhe genommen hatte. Die Vorstellung der Einsamkeit auf einer Insel in der Unendlichkeit der Meere schreckte sie zwar, aber die weite Reise, das Unterwegssein lockte sie immer mehr, je älter sie wurde. Wahrscheinlich hatte sie sich von Rosinas Wanderlust anstecken lassen. Die Freundin war nun wieder sesshaft, aber die Unruhe und die Neugier auf die Welt waren ihr geblieben, und Anne fragte sich, wie lange Rosina es als Bürgerin hinter sicheren Festungswällen aushalten werde.
Auf Jersey hatte Anne diese Sehnsucht kaum gespürt, dort war sie viel zu beschäftigt gewesen. Zwar fungierte ihr Bruder als Herr des Handelshauses St. Roberts, aber jeder auf der Insel und auch die Handelspartner in Frankreich, England oder Übersee wussten, dass die Schwester des Besitzers an den Geschäften mehr als nur beteiligt war. Seit Anne in Hamburg lebte, hatte sie offenbar genug Muße, Sehnsüchte zu entwickeln, die ihr bisher verborgen geblieben waren. Es war natürlich ein bisschen verrückt, aber die Vorstellung, nicht nur geriebene Muskatnuss in den Speisen zu schmecken, sondern auf den molukkischen Gewürzinseln in Niederländisch-Ostindien auch
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