Die Nacht des Schierlings
wurde im Fleet gefunden, leider zu spät, ja, ertrunken, sagt der Physikus.» Er hätte «im Schlick erstickt» sagen müssen, das empfand er in diesem Moment als zu grob. «Er war wohl betrunken und ist deshalb vom Steg ins Fleet gefallen. So was kommt vor, ja, das kommt vor. Andererseits, womöglich – hatte er Streit? Wenn er nämlich …»
«Was redet Ihr so ’n umständliches Zeug, Weddemeister», fuhr sie ihn an und richtete sich auf wie eine Gans vor dem Angriff. «Sagt doch, was Ihr zu sagen habt. Ich bin nur die Magd, Elwa. Ich brauch keine Rücksicht. Ich war ja nich’ vernarrt in den K … in den Meister.»
Wagner war plötzlich froh. Natürlich musste er mit der Witwe sprechen, sie kannte sich am besten mit den Gewohnheiten des Toten aus, mit seinen Freunden und Feinden. Nicht immer, aber allen Unkenrufen zum Trotz doch meistens. Manches entpuppte sich als Irrtum, es gab wirklich erstaunliche Irrtümer, aber bei den nächsten Angehörigen fing eine Ermittlung nun mal an. Eine Witwe allerdings, die in ihren just verlorenen Mann «ganz vernarrt» gewesen war, war ungemein mühsam zu befragen. Eine womöglich schwatzhafte, wenn auch zur Schroffheit neigende Magd war da viel besser. Die ersparte ihm jedes Brimborium. Die Befragung der Witwe hatte bis morgen Zeit, wenn sie all die Ergüsse von Worten und Tränen, diese zahllosen Wiederholungen der Qualitäten des Verblichenen schon anderswo abgeladen hatte.
«Gut», sagte er, «sehr gut. Er lag im Fleet, das ist gewiss. Wo war er übrigens in der Nacht? Woher kam er?»
«Er war im Gasthaus, im Bremer Schlüssel in der Fuhlentwiete, da ging er manchmal hin. Nich’ oft», betonte sie missmutig nuschelnd, «er war keiner, der zu viel trinkt und alle Tage ins Gasthaus rennt. Aber gestern Nacht kam er da her. Denk ich mal. Ich war ja nich’ dabei, war keiner.»
Wagner nickte. Der Bremer Schlüssel war ein anständiges Gasthaus, er kannte es selbst gut. «Wie er ins Fleet gekommen ist und warum», fuhr er fort, «das ist allerdings nicht gewiss. Womöglich hat jemand, nun ja, nachgeholfen.»
Elwa schluckte, in ihren Augen sah Wagner keine Überraschung. Sie war nicht dumm, wenn der Weddemeister nach einem Todesfall ins Haus kam, konnte es kaum etwas anderes bedeuten. «Unsinn», sagte sie trotzdem. «Warum sollte einer so was tun?»
Wagner fand Elwas Widerspruch lau, aufgesagt wie auswendig gelernt. «Genau das ist die Frage. Wenn ich das weiß, weiß ich bald auch, wer es getan hat. So was ist kein Schabernack. Hatte jemand Grund, ihn ins Fleet zu befördern?»
«Grund, Grund – was ist schon ein Grund? Fallen doch alle Tage welche ins Wasser.» Elwas Blick glitt aus dem Fenster, zurück über den Verkaufstisch, die Regale mit den Konfektschachteln und Konfitüretöpfchen, dem für Kundschaft bereitstehenden Korb mit süßen Brötchen. «Das hier war jetzt sein Reich», sagte sie und klang plötzlich spröde, «manch einer hat ihm das nicht gegönnt. Jeder hat einen, der ihn nicht mag, und Männer», sie sah Wagner fest an, «Männer machen sich schon mal Feinde und plustern sich gern auf. Wie die Gockel. So ist das eben. Den Meister haben alle gerngehabt. Na, fast alle. Den Tod hat ihm aber keiner gewünscht.»
Irrtum, wollte Wagner sagen, offenbar hat genau das jemand getan. Und nicht nur in Gedanken. Da öffnete sich die Tür. Wagner kannte die Frau nicht, die da eintrat und fragend von Elwa zu ihm und wieder zurück sah, doch es konnte nur Magda Hofmann sein. Sie trug ein schwarzes Gewand, auch das Haar war von einen schwarzen Schleier bedeckt, das Gesicht bleich wie der Tod, die Augen von Tränen und Kummer rot und geschwollen. Wagner rutschte von seinem Stuhl und stellte sich, seinen Namen murmelnd, mit einer ungeschickten Verbeugung vor. Er hatte gehört, Meisterin Hofmann sei eine für ihre Jahre noch sehr ansehnliche Frau. Tatsächlich, so fand er nun, glich sie einer der so wunderschön und ergreifend leidenden Frauen unter dem Kreuz, wie sie auf den alten Gemälden in den Kirchen zu sehen waren.
Als er merkte, wie er sie anstarrte, verbeugte er sich rasch noch einmal, murmelte etwas von Beileid und dass er ihren Kummer nicht stören wolle. «Es sind nur einige Kleinigkeiten zu klären. Das hat auch Zeit. Bis morgen vielleicht? Wenn es Euch bessergeht.»
«Zu klären?» Magda Hofmann lächelte müde. «Geht es um meinen Mann? Wer seid Ihr, Monsieur Wagner? Wagner? Der Name ist mir bekannt. Verzeiht, ich kann heute nicht klar denken,
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