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Die Nacht des Schierlings

Die Nacht des Schierlings

Titel: Die Nacht des Schierlings Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Petra Oelker
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doch nicht tief genug für lebensgefährliche Folgen. Natürlich konnten auch kleinste Wunden zu tödlichen Entzündungen führen, aber das brauchte Zeit, und diese hatte ziemlich frisch ausgesehen.
    Wagner bog in den Rödingsmarkt ein und blieb mit einem ungehaltenen Schnaufer stehen. Er hätte es wissen müssen: Beim Haus der Witwe Hofmann hatte sich eine ganze Traube von schwatzenden Menschen versammelt. Mittendrin erkannte er auch Knofler, was vor allem daran lag, dass der Redakteur der Hamburgischen Neuen Zeitung die meisten seiner Mitmenschen überragte wie ein Leuchtturm. Er stand neben einem jungen Mann, den Wagner auf den zweiten Blick als Drifting zu erkennen glaubte, den Gesellen des Apothekers beim Opernhof. Wenn all diese Leute nun sahen, wie er, der Weddemeister, das Haus der Witwe Hofmann betrat, würde sich der Klatsch erst recht in Windeseile verbreiten. Das war manchmal von Vorteil, in diesem Fall nicht. Jedenfalls noch nicht.
    Wagner blieb im Schutz eines mit Tonnen beladenen Fuhrwerks am Fleet stehen, was günstig war, denn hinter den schlanken jungen Linden hätte er seine runde Gestalt kaum verbergen können, und beobachtete die kleine Meute. Es lag Aufregung in der Luft, die Stimmen klangen keineswegs gedämpft nach Pietät und Trauer, und er hätte zu gerne gehört, was dort gesprochen wurde. Drifting lächelte sogar, oder nicht? Nun klopfte Knofler ihm wie anerkennend auf die Schulter.
    Dann erkannte Wagner, dass die Leute gar nicht vor der Konditorei, sondern vor der Lederwarenhandlung in einem der Nachbarhäuser standen. Die rührige Madam Lorenzen nutzte mal wieder die Gunst einer besonderen Stunde. Er grinste. Nichts gegen strebsame Frauen, hier allerdings war die Gefahr groß, dass in der Summe des Tages aus ihrem Geschäft wenig wurde, denn auch Taschendiebe wussten gute Gelegenheiten zu nutzen. Die kümmerten ihn heute nicht, er hatte Wichtigeres vor. Die Leute waren selbst schuld, wenn sie nicht auf ihr Eigentum achteten.
    Dann hatte er doppeltes Glück. Vom Hafen kam ein eleganter Einspänner heraufgerollt, auf dem Bock saß der Kutscher von Madam Schwarzbach. Die Witwe des Kattundruckereibesitzers ließ vor der Lederwarenhandlung halten und zog als gute Kundin des toten Konditors und stets wohlinformierte Kaffeekränzchenschwester sofort alle Aufmerksamkeit auf sich. Zugleich hörte er hinter sich energischen Gleichschritt, und schon marschierten zehn oder gar zwölf Soldaten der Stadtgarnison mit geschulterten Gewehren an ihm vorbei, in deren Rücken er unbemerkt bis zur Konditorei gelangte. Die Tür öffnete sich gleich, und er stand im Halbdunkel der Hofmann-Runge’schen Diele. Leider duftete es so wunderbar nach den köstlichen Zutaten von Konfekt und süßem Brot, dass der bis dahin ausgebliebene Hunger ihn anfiel wie ein Wolf.
    Wagner hatte die Tür behutsam hinter sich geschlossen. Dies war ein Trauerhaus – egal, aus welchem Grund Trauer herrschen musste, tot war für die Angehörigen tot. Zunächst. Das Erschrecken über die Art und Weise, wie und warum ein Mensch gestorben war, folgte bald. In seinen Jahren als Weddemeister hatte er verstanden, dass die Tiefe des Leids der Hinterbliebenen immer auch von der Art und Weise abhing, wie ein Mensch sein Leben verloren hatte. So wurde ein Weddemeister stets zum doppelten Unglücksboten, denn wenn der eine Todesbotschaft überbrachte, bedeutete das die Botschaft von einem gewaltsamen Tod. Oder dass ein Mensch hoffnungslos genug gewesen war, seinem Leben selbst ein Ende zu setzen, was für die Angehörigen kaum einfacher, oft schwerer zu ertragen war. So oder so, Besuche wie dieser waren ihm ein Graus.
    «Selbst schuld», grummelte er leise. Hätte er sich einfach der Sicht des Physikus angeschlossen, würde er jetzt nicht hier stehen. Der Tote käme schnell unter die Erde, und die Familie konnte in Ruhe trauern. Manchmal wünschte er sich das: nichts hören, nichts sehen. Aber das konnte er nicht. Nur ein vager Verdacht, und er konnte erst wieder loslassen, wenn der Fall geklärt war, sei es auch, dass sich sein Verdacht als Irrtum herausgestellt hatte. Obwohl er natürlich lieber recht behielt.
    Nun stand er hier in der Diele und lauschte. Da war nur das Ticken der Standuhr, sonst regte sich nichts. Das fand er seltsam. Trauer war nicht nur mit Stille verbunden, sondern oft mit lautem, manchmal markerschütterndem Klagen. Zumindest aber gab es dieses Huschen, Murmeln und Rascheln im Haus, die Geräusche hilfreicher Verwandter

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