Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Nacht des Schierlings

Die Nacht des Schierlings

Titel: Die Nacht des Schierlings Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Petra Oelker
Vom Netzwerk:
übernehmen. Wagner stützte sich nun achtsam mit beiden Armen auf das Geländer, um sich noch einmal die Festigkeit zu bestätigen, und sah das Fleet entlang bis zum Hafen hinunter. Ein schöner Blick, dachte er, besonders an einem so schönen Tag wie heute. Das sich gelb färbende Laub der Linden leuchtete in der Sonne, darüber der blaue Himmel, weißgraue Möwen segelten über dem Fleet, als seien sie nicht gierig und kampfbereit auf Futtersuche, sondern tanzten nur zum Vergnügen mit dem Wind. In diesem milden Herbstlicht erschienen selbst die schon ein bisschen maroden Fachwerkfassaden frisch geputzt.
    Das Fleet war mit Vorsetzen befestigt, an einigen Stellen führten ein paar Tritte hinunter, dort lagen auch Schuten oder Ruderboote. Einen Ewer konnte Wagner nicht entdecken, obwohl die kleineren den Wasserlauf heraufgestakt werden konnten, wenn ihr Mast umgelegt und die Schubkraft des auflaufenden Wassers genutzt wurde. Aber jetzt war ablaufendes Wasser, an den Rändern des Fleets zeigten sich schon Schlickstreifen, noch zwei, vielleicht drei Stunden, dann war volle Ebbe.
    Aus einer gerade noch im Wasser liegenden Schute wurde Fracht hochgehievt. Ein Arbeitsmann stand im Boot, unterstützt von einem Jungen, oben stand nur einer bereit. Wagner reckte den Hals, um zu erkennen, was da ausgeladen wurde, und da – so plötzlich, dass es ihn wie ein Blitz durchfuhr – begriff er, warum er hier noch herumstand und über Ewer, Schuten, Treppen und die schöne Aussicht nachdachte, als habe er nicht Wichtigeres zu tun, warum er seinen Gedanken freien Lauf ließ wie einer Meute von Jagdhunden, bis sie die Spur des gejagten Wildes fand. Und endlich die Beute selbst.
    Es war nur eine Kleinigkeit, jetzt sah er es und erinnerte, was er gesehen hatte, ohne es zu verstehen, als er sich vorhin hinter dem Fuhrwerk verborgen und die Leute vor der Lederwarenhandlung beobachtet hatte. Es waren die Winden. Dies war eine Straße mit Häusern halbwegs wohlhabender Familien, die meisten trieben Handel oder verrichteten ein zünftiges Handwerk, alle hatten Speicherraum zumindest unterm Dach, etliche im Hinterhaus. Die auf der westlichen Seite hatten nach hinten keinen Zugang zum Fleet, nur nach vorne über die Straße. Vor fast jedem Haus stand deshalb eine holländische Winde, von der Brücke sahen sie ordentlich aufgereiht aus wie Soldaten beim Appell. Die Winden waren für ihn jetzt die Spur, die Beute eine banale lange Stange. Das Ding, mit dem nun der oben stehende Arbeiter die an der Kette aufwärtsgehievten Ballen heran und auf die Straße zog.
    Mit drei Schritten war Wagner bei der Winde, die gleich neben dem Steg stand. Wie er vermutet hatte, gab es auch an dieser eine Halterung, in der die lange Stange eingeklemmt und festgebunden war. Und die trug eine stumpfe, von Wind und Wetter raue Eisenspitze und einen gebogenen Haken, zu genau dem Zweck, den Wagner gerade beobachtet hatte. Als er nach der Stange griff, fiel sie ihm entgegen, und er schnaufte mit Genugtuung. Sie war nicht sicher arretiert. Wer immer die Stange zuletzt benutzt hatte, hatte es zu eilig gehabt, sie wieder festzumachen. Und gründlich abzuputzen – vorne an der Spitze klebte noch eine Portion Schlick. Das musste nichts bedeuten – sicher klebte an manchen Schlick. Aber es konnte etwas bedeuten.
    Wagner hätte sie gerne mitgenommen, er war sicher, dass ihre Spitze genau zu der Verletzung an Bruno Hofmanns Nacken passte. Und damit passte endlich auch alles zusammen. Irgendetwas an den Bildern, die im Eimbeck’schen Haus in seinem Kopf entstanden waren, war vage geblieben, hatte sich nicht zusammengefügt und ihn auf diese Weise beunruhigt, die er immer fühlte, wenn ein Teil des Bildes fehlte oder ihm falsch erschien. Jetzt verstand er.
    Für einen Mann wie Hofmann, der den Sturz zudem ohne Knochenbrüche überstanden hatte, hätte es leicht möglich sein müssen, sich aufzurappeln, die Vorsetzen mit den hölzernen Tritten zu erreichen und hinauf in die Sicherheit zu klettern. Sogar wenn er betrunken war – es sei denn, bis zur Besinnungslosigkeit, wofür er aber nicht bekannt gewesen war. Inzwischen war die Flut über die Stelle hinweggegangen, also hatte Wagner den Nachtwächter fragen wollen, ob es am Fundort Spuren einer weiteren Person gegeben hatte. Das würde er auch jetzt noch tun, er wollte nichts versäumen. Aber es war noch fast dunkel gewesen, ein Ungeübter achtete nicht auf hilfreiche Spuren und übersah in dem Schrecken und der Aufregung

Weitere Kostenlose Bücher