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Die Nacht des Schierlings

Die Nacht des Schierlings

Titel: Die Nacht des Schierlings Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Petra Oelker
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Madam Vinstedt. «Papperlapapp», verspottete sie sich selbst, «Rosina Vinstedt oder Rosina Hardenstein – wer könnte das trennen!»
    Sie hatten sie noch nicht bemerkt. So blieb sie stehen, halb verdeckt von einer mannshohen hölzernen Figur, die einen Wilden aus den amerikanischen Kolonien darstellte. Den herrischen Gesichtszügen nach zu schließen einen edlen Wilden. Auf den war Jakobsen mindestens so stolz wie auf seinen teuren Kachelofen. Er hatte die Statue einem Seemann abgekauft, der sie seiner Liebsten aus den Ländern jenseits des Atlantiks als Hochzeitsgabe mitgebracht hatte. Leider hatte er sich nach Seemannsart sechs Jahre Zeit gelassen, inzwischen war sie längst einem anderen angetraut. Jakobsen fand, in einer großen Hafenstadt war so ein fremdländischer Indianer mit seltsamem Kopfschmuck – es sah nach Federn aus! – genau richtig für ein präsentables Gasthaus. Inzwischen hatte der arme hölzerne Wilde Blessuren davongetragen, denn wenn hier auch auf einigen Tischen Tücher lagen, hatte die gelegentliche Rauflust der Gäste kaum nachgelassen.
    Heute war alles friedlich, Rosina hörte Helenas warmes Lachen, Jean stimmte ein, dazu Titus vergnügtes Brummen und Magnus’ Stimme; heiter und rasch erzählte der eine seiner aus Venedig mitgebrachten Schnurren, von denen er unerschütterlich behauptete, er habe sie dort alle selbst erlebt.
    Endlich entdeckte er sie in ihrer dunklen Ecke, rief: «Da ist sie ja», und sprang auf. Unmöglich, ihr entgegenzueilen, wie er es überall sonst getan hätte, es waren nur zwei Schritte, aber so einfach war an Titus’ Bauch nicht vorbeizukommen. Dann saß Rosina zwischen Magnus und Helena auf der Bank, ein Glas sauren, dafür nicht gepanschten oder gärenden Wein vor sich, die vertrauten Gesichter im schummerigen Raum von ein paar Kerzen mild beschienen, es roch nach Knasterqualm, Bier und Gesottenem – alles war wie immer. Rosina fühlte sich plötzlich leicht. Alle, die sie liebte, waren wieder da. Und wenn sie auch nicht selbst auf der Bühne stehen würde, würde sie wieder dazugehören. Zu «ihrem» Theater, dem Becker’schen. Und wenn alles gutging mit ihrem Plan …
    «Wovon träumst du?», flüsterte Magnus an ihrem Ohr, sein warmer Atem streichelte ihren Hals.
    «Ich träume nicht», log sie und ließ ihre Wange leicht die seine berühren, «ich denke nach. Wie weit ist Rudolf mit seiner Arbeit?», fragte sie laut in die Runde. Rudolf, Baumeister, Kulissenmaler und Feuerwerker der Gesellschaft, versuchte seit Tagen auf der kleinen Bühne im Dragonerstall bei der Bastion Ulricus drehbare Kulissen einzubauen. Ein gewagtes Unterfangen, das zudem die ohnedies bescheidene Bühne weiter verkleinerte. Aber jeder Mensch hat seine Träume, und Rudolf träumte nun mal von einer Theatermaschinerie, die diesen Namen verdiente. Noch mehr, seit er dieses wahre Wunderwerk im Gothaer Schlosstheater gesehen hatte. Dort hatten sie im letzten Karneval für einige Wochen gastiert. Es war wunderbar gewesen, die junge Herzogin hatte keine Vorstellung versäumt und war nicht müde geworden, ihre Kunst und besonders Mutos Akrobatik zu loben. Leider hatten sie nicht bleiben können, aber das Gothaer Theater hatte alle tief beeindruckt. Also hatten sie schließlich Rudolfs Plänen zugestimmt, tatsächlich nach einem Machtwort von Helena, wie Jean Rosina amüsiert zugeraunt hatte.
    «Es geht voran», behauptete Helena nun. «So eine Maschinerie ist ein kompliziertes Ding, auch wenn unsere nur ganz einfach wird, ohne Oberbühne, ohne richtige Unterbühne.»
    Gesine nickte. Als stets brave Ehefrau des stillen Rudolf hatte sie seinen Wunsch unterstützt, sogar einige weitere Argumente den seinen hinzugefügt, als es darum gegangen war, Prinzipal und Prinzipalin von seinem Plan zu überzeugen. Heimlich fand sie Rudolfs Vorhaben – nun ja, fragwürdig. Als Gewandmeisterin der Truppe und sparsame, über ihre Arbeit an den Kostümen hinaus mit wenig Phantasie begabte Frau konnte sie sich nicht vorstellen, dass ein paar schneller zu wechselnde, drehbare Kulissen das Publikum in Massen ins Dragonerstall-Theater locken würde. Im großen Haus im Opernhof beim Gänsemarkt hatten sie eine bessere Maschinerie, dazu eine richtige, oft noch durch die Stadtpfeifer verstärkte Kapelle, und wurde der Saal deshalb voll?
    «Ja, es geht voran», sagte sie jetzt und ließ ihre Stimme zuversichtlicher klingen, als sie sich fühlte. «Es ist zu schade, dass das große Haus zurzeit geschlossen

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