Die Nacht des Schierlings
bei der Börsenhalle stehen. Sein Sohn, übrigens ein wenig redseliges Kind, was für seinen zukünftigen Beruf Vor- und Nachteile hatte, sah erwartungsvoll zu seinem Vater auf. Der tätschelte ihm nur abwesend die Schulter, während sein Blick suchend über den langgezogenen Platz vor Gericht, Rathaus, Börse und Commerzium durch die Menge schweifte. Vor dem Rathaus stand eine ganze Reihe von Kutschen, dazwischen eine altmodische Sänfte, es gab nicht mehr sehr viele, die Träger hockten auf der Erde und spielten mit zwei der Kutscher Würfel. Offenbar hatte der Rat Sitzung, die Kutscher der hohen Herren langweilten sich in der Wartezeit. Frederking würde es genauso gehen.
Er entdeckte einige bekannte Gesichter, aber keines, das er gehofft hatte, hier zu sehen. Er sollte wohl doch einmal bei Jensen einkehren. Warum nicht? Zu den Kaffeehäusern hatte jedermann Zutritt. Er bevorzugte eines bei St. Petri, in dem seinesgleichen verkehrte und er auch wie seinesgleichen angesehen war und die Rechnung kein Bauchgrimmen hervorrief. Aber einmal zu Jensen, nur um die neuesten Nachrichten aufzuschnappen … – da erkannte er, dass das überflüssig war. Einer der beiden Männer, die er nur wenige Schritte weiter beim alten Kran in ein angeregtes Gespräch vertieft sah, war Franzen, nicht gerade ein Freund, aber eine gut und sinnreich gepflegte Bekanntschaft. Denn Franzen war Barbier, er war gefragt und kam in etliche Häuser von Reputation. Franzen war so gut wie ein ganzes Kaffeehaus.
«Komm», sagte er, gab dem einem apfelbäckigen Kleinmädchen nachträumenden Sohn eine flüchtige Kopfnuss und drängte sich durch die den Abend genießende, flanierende Menge. Franzen sah ihn kommen, winkte ihm zu, und Frederking spürte dieses hitzige Kribbeln, das immer dem Austausch erregender Neuigkeiten vorausging. Wenn er sich richtig erinnerte, hatte Franzen auch Herrmanns und dessen älteren Sohn rasiert, als deren Diener sich im letzten Winter beim Schlittschuhlaufen den rechten Arm gebrochen hatte. Ja, die Herrmanns, die waren immer ein Thema, wahrhaftig keine langweilige Familie.
Und die Sache mit dem zerrissenen Rock – es war schon ein bisschen seltsam, wie Monsieur Herrmanns sich in die Belange seiner Gattin gemischt hatte. Wieso kümmerte sich ein reicher Handelsherr um ein Loch im Stoff eines Rockes, der dazu nicht mal der allerneueste war? In seinem Haus gab es neben der Ehefrau genug Dienstboten. Wirklich seltsam, sogar sehr seltsam. Zudem hatte Madam Herrmanns recht gehabt, mit dem fachkundigen Auge eines Schneidermeisters hatte er das sofort erkannt. Da war ein ganzes Stück Stoff ausgerissen, mitsamt dem Knopf. Und der war nicht von Holz, sondern von Silber. Wie die anderen. Sein Gesicht verzog sich zu einem maliziösen Lächeln. Er kannte solche Risse, besser gesagt Ausrisse genau. Sie erforderten Kraft. Da war der zukünftige Herr Senator wohl in ein rencontre geraten, eine kleine gemeine Auseinandersetzung. Etwa um eine Dame? Auf nächtlicher Straße oder gar in den düsteren übel beleumundeten Gängen? Dort gab es allerhand Häuser, in die sich auch betuchte Herren gerne verirrten. Wäre es im Licht passiert, hätte man längst davon gehört. Sososo, der honorige Herrmanns’. Was sollte man davon halten?
Es musste einen Grund geben, einen bedeutenden Grund sogar, wenn er seine Frau hinderte, den einer Reparatur bedürftigen Rock dem Schneider zu überlassen. Natürlich gab es Überfälle auf nächtlicher Straße, bei denen die Kleider noch schwerer ramponiert wurden. Auf dem absolut ehrbaren Heimweg aus dem Commerzium zum Beispiel konnte es geschehen, oder nach einem Herrenabend mit Austern und Rheinwein im Kaiserhof . Falls einer so unklug war, in der Nacht allein durch die dunklen Gassen nach Hause zu gehen. Und warum tat einer das, der sich Kutscher und Diener, mindestens einen Laternenträger leisten konnte?
Nein, nein. Wenn er das Malheur verstecken wollte, wollte er verstecken, wie der Riss in den Rock gekommen war. Auf welche Weise. Durch wen.
Durch WEN! Das musste es sein.
«Gemach, Frederking», sagte er sich, «gemach.» Zu spät. Seine Gedanken, diese Bilder im Kopf, wucherten schon. Und da war noch etwas gewesen. Was nur? Wie hatte sie gesagt? Da ist meinem Gatten am Montag – hatte sie Montag gesagt? Das hatte sie. Er war ganz sicher. Montagnacht. Wie überaus interessant.
«Na?» Franzen hatte sich von dem Teekrämer Henrich verabschiedet und begrüßte den Schneidermeister mit hellwachen
Weitere Kostenlose Bücher