Die Nacht des Schierlings
des Hausherrn, die ungemein wohlhabende Tante, die edle Stoffe zu schätzen wusste. Es kränkte ihn, dass die Dame des Hauses bei dieser Jungfer arbeiten ließ, die sein Konkurrent am Krayenkamp als Miederschneiderin eingestellt hatte. Aber jeder wusste, dass sie die extravagantesten Kleider entwarf. Wenn man diesen Stil mochte! Diese neue englische Mode, viel weiß und erdfarben, Pastell, kaum noch Mieder!, es sah nachlässig aus, nach Landjunkerei, keinesfalls comme il faut . Nun gut, Madam Herrmanns war schließlich Engländerin, genau genommen eine halbe, die andere Hälfte so gut wie französisch – wenn man all das bedachte, war es gerade keine Beleidigung, dass sie nicht bei ihm arbeiten ließ. Madam war ihm sowieso viel zu dünn, da war es schwer, ein ordentliches Dekolleté zu zaubern.
«Monsieur Frederking?» Anne Herrmanns blickte ein wenig verunsichert, ein wenig amüsiert zu ihrem Mann und zurück zu seinem Schneider.
«Pardon, Madam», stotterte Frederking. Er hatte sich tatsächlich in Zorn gedacht, was ihm häufiger passierte, als die meisten ahnten, aber niemals, NIEMALS in Anwesenheit vornehmer Kundschaft. «Pardon, Madam, ich war einen Moment abgelenkt, denn ich sehe, Ihr habt einen Rock Eures Gatten mitgebracht, ja, ich erkenne alles aus meiner Werkstatt. Auch diesen habe ich selbst gemacht, Stich um Stich, ein gutes Stück, sehr durabel. Nicht wahr? Beste schottische Wolle. Da dachte ich, weil ich gerade hier bin, wolltet Ihr ihn mir bringen? Gibt es eine Kleinigkeit daran zu ändern? Oder auszubessern? Obwohl …»
Er holte tief Luft und schwieg. Anne Herrmanns Lächeln war so breit, dass er sie im Verdacht hatte, ein Lachen zu vermeiden. Claes Herrmanns stand beim Spiegel, gelassen die Arme vor der Brust verschränkt, und blickte auf eine Weise zu seiner Frau – auf eine Weise! Dieser Mann war über die fünfzig, wurde bald Senator und blickte verliebt. Das schickte sich nicht, das – schon wieder hatte er die falschen Gedanken. «Pardon, Madam», lispelte er, nun ganz ohne Nadeln zwischen den Lippen.
«Lasst nur, lieber Frederking. Es gibt nichts zu entschuldigen.» Anne Herrmanns lächelte nun milde. «Ihr habt gar nichts falsch gedacht. Ich war zu einem Krankenbesuch außer Haus und wusste nicht mehr, dass Ihr hier seid. Aber nun könnt Ihr einen Blick auf den Rock werfen. Meinem Mann ist am Montagabend wohl ein kleines Malheur passiert.» Sie nahm den über ihrem Arm liegenden Rock an den Schultern und hielt ihn hoch. «Dieses gute Stück braucht dringend Eure meisterliche Hand.»
«Nein, Anne!» Claes Herrmanns trat zu seiner Frau, Frederking konnte sein Gesicht nicht sehen, hingegen sah er das Stirnrunzeln und die Irritation in ihrem Gesicht. «Frederking ist ein Meister der Schneiderkunst», fuhr Herrmanns in verbindlichem Ton fort. «In dem Rock ist ein kleiner Riss, nichts Besonderes. Das erfordert nur Flickarbeit. Betty oder Valerie können das leicht ausbessern.»
«Aber nein. Du hast es vielleicht nicht genau besehen, ein Stück Stoff ist ausgerissen, samt einem Knopf. Man muss eines unterlegen und ganz akkurat nähen, und in der Schneiderei gibt es sicher noch einen Streifen von …»
«Nein!» Er nahm ihr den Rock ab, faltete ihn einmal und legte ihn auf die Truhe an der hinteren Wand. «Seht Ihr, Frederking», wandte er sich in heiterem Ton wieder dem Schneider zu, «auch in den besten Ehen herrscht mal Uneinigkeit, wenn es um alltäglichen Kleinkram geht. Was denkt Ihr, wann wird der neue Rock fertig sein?»
S chneidermeister Frederking bedauerte sehr, dass ihn sein Weg nicht über den Rödingsmarkt und dessen Fleetbrücke führte. Der Umweg hätte jedoch gut die doppelte Wegstrecke bedeutet, was bei dem Zustand der Straßen seine neuen Schuhe ruinieren musste. Das war bedauerlich, denn er wusste, was er seiner Kundschaft schuldig war. Es wäre unbestreitbar von Vorteil, den Ort der schrecklichen Tat gesehen zu haben, wenn er in dieser Angelegenheit um seine Meinung gefragt wurde, was ganz sicher geschah. Wie wenig die Herrmanns sich für den Tod des Konditormeisters interessierten, erstaunte ihn. Jedenfalls Monsieur Herrmanns, Madam Augusta hätte gewiss mehr Mitgefühl bewiesen. Meister Hofmann hatte nicht zu ihren Kreisen gehört, daran mochte es liegen. Andererseits sollte es jeden aufrechten Bürger bekümmern, sogar empören, wenn ein ehrbarer Mensch auf so schmähliche Weise ums Leben gekommen war.
Als Frederking die Trostbrücke passiert hatte, blieb er
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