Die Nacht des Schierlings
Augen. Er war ein hagerer Mann von gepflegter Erscheinung, wie man es von einem Barbier der besseren Stände erwartete. Seine schlichte Perücke war aus echtem braunem Haar und verströmte einen nur ganz wenig zu starken Duft nach Veilchenwasser, der schlichte Tuchrock schwarz wie die Kniehosen, Strümpfe, Hemd und Halsbinde makellos weiß. Er war auf dem Heimweg von der Runde zu den Herren, die für eine abendliche Verpflichtung frisch rasiert sein wollten, sein Lehrjunge mit dem Korb voller Utensilien hockte ob der Müßigkeit seines Lehrherrn ergeben wartend auf dem Beischlag des Hauses gegenüber. «Ich sehe es, Frederking. Es gibt Neuigkeiten. Zu Hofmanns Tod, was?»
«Auch», sagte Schneidermeister Frederking, nun tatsächlich tänzelnd vor Erregung, «auch, mein Freund.»
D as Anatomische Theater im Eimbeck’schen Haus befand sich ziemlich genau in der Mitte der Stadt; wie sich nach einem Steinwurf die Kreise im Wasser ausbreiten, hatte sich endlich die Nachricht von dort nach allen Seiten durch die Straßen, Gassen und Höfe verbreitet, weiter treppauf, treppab, über die Plätze und durch die letzten verbliebenen Hintergärten, von den Schenken und Märkten gar nicht erst zu reden. Während die Wasserkreise immer flacher werden, werden echte Nachrichten und falsche Gerüchte deftiger. Die rasche Beerdigung, zudem weit außerhalb der Stadt, tat ein Übriges.
Kaum jemand sprach von der Verletzung im Nacken und am Hals des Toten, die den Weddemeister letztlich davon überzeugt hatte, dass hier jemand beim Sterben nachgeholfen hatte. Doch viele wussten von dem Messer zu berichten, das im Rücken des Leichnams gesteckt haben sollte, als er im Fleet gefunden wurde, natürlich blutbesudelt.
«Das ist blanker Unsinn», erklärte Wagner und klopfte unwirsch mit Zeige- und Mittelfinger auf die Kante des Küchentisches in der Vinstedt’schen Wohnung, dass die Brotkrümel hüpften und die Butterschale leise gegen seinen Teller klirrte. «Da war kein Messer. Jedenfalls nicht in der Leiche. Auch keine Verletzung, die nach scharfer Klinge aussah. Falls eines im Morast gelegen hat, hat es die Flut weggeschwemmt. Das kann keiner wissen, nur die beiden Nachtwächter, und die haben nicht nachgesehen. Die haben sich nur beeilt, den Mann raufzuhieven, sie wussten nicht sicher, ob er tot ist, auch wenn’s genauso aussah, und die Flut lief schon auf. Das mit dem Messer ist pure Einbildung, geboren aus der Mordlüsternheit der Leute. Denen fällt eben nichts anderes ein, immer nur Messer. Dabei gibt es viele Werkzeuge, die – nun ja, Werkzeuge eben.»
«Aber es stimmt, dass er eine Verletzung hatte?», fragte Rosina.
«Ja. Am Nacken und weiter hinunter am Hals wie ein heftiger Kratzer. Sein Leib war unversehrt. Obwohl ich ihn etwas aufgebläht fand, aber der Physikus – na ja. Die Wunde war jedenfalls nicht von einem Messer, auch nicht von einem stumpfen. Ich bin sicher, im Fallen ist ihm der Rock über die Schulter gerutscht, und dann hat ihn jemand mit einer dieser Stangen, wie sie an den Winden benutzt werden, unten im Fleet gehalten. Der musste dazu kräftig drücken. Erst recht, wenn Hofmann gezappelt hat.» Wagner schwieg, sein Blick wurde abwesend. «Jedenfalls, um ihn lange genug runterzudrücken», fuhr er dann fort, «bis, ja nun, bis er nicht mehr atmete. So ist die Verletzung entstanden, nämlich mit dem stumpfen Eisenhaken an der Stangenspitze.»
«Hm», sagte Magnus, während er sich noch eine Scheibe Rauchfleisch in den Mund schob, und Rosina nippte stirnrunzelnd an ihrem Wein. «Wenn der Tuchrock auch verrutscht war – so eine Spitze muss durch das Hemd gegangen sein, er wird ja eins angehabt haben. Das Hemd muss ein Loch haben, einen Riss, wenn die Haut verletzt war, zumindest einen Blutfleck.»
«Das Hemd», erklärte Wagner knurrig, «gibt es nicht mehr. Es war wie seine ganze Kleidung voller stinkenden Schlicks. Die Familie wollte das Zeug nicht zurückhaben, deshalb ist angeblich alles mit dem Straßenkummerwagen fortgeschafft worden. Wo die Kleider wirklich sind», Wagner hob ärgerlich die Schultern, «wer weiß? Kleider eines Meisters sind immer wertvoll, auch mit Schlick verklebte. Jedenfalls ist alles auf Nimmerwiedersehen verschwunden, sogar die Schuhe.»
«Eine Ungewissheit nach der anderen», sagte Rosina. «Von dem Messer habe ich übrigens schon am Morgen nach seinem Tod gehört. Eine der Nachbarinnen hat davon erzählt, Madam Lorenzen, die Lederwarenhändlerin am Rödingsmarkt. Sie
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