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Die Nacht des Schierlings

Die Nacht des Schierlings

Titel: Die Nacht des Schierlings Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Petra Oelker
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über den Stoff der neuen Weste, die der Schneider ihm als «absolut unverzichtbar» aufgeschwatzt hatte. In der Tat, er hatte sich etwas aufschwatzen lassen. Sogar mit einem Lächeln, denn der Schneider hatte recht gehabt, diese Weste passte perfekt zum Stoff des neuen Rocks.
    Der Schneider zupfte hier, versetzte dort eine Nadel, strichelte an anderer Stelle mit der Kreide, trat einen Schritt zurück und kniff die Augen zusammen.
    «Superb», rief er dann und rieb die Hände, «wirklich superb. Wenn ich es so sagen darf, Monsieur Herrmanns. Ich würde zu diesem geheimnisvollen Nachtblau die Paspeln und Knöpfe um eine Nuance heller empfehlen, wirklich nur eine Nuance. Um diesen wunderbaren Eindruck vollendeter Eleganz nicht zu stören.» Für diesen Satz, einen seiner liebsten bei wohlhabenden Kunden, hatte er flugs alle Nadeln aus dem Mund genommen. «Hmmm», er lächelte schalkhaft, «Ihr werdet glänzend auftreten, Monsieur Herrmanns, wie immer natürlich, wie gewöhnlich. Aber das Rathaus, der Tisch der Ratsherren, unserer allseits verehrten Hoch- und Wohlweisheiten – das ist noch einmal etwas Höheres als der selbstredend auch ungemein wichtige und ehrenvolle Sitz im Commerzium.»
    «Passt nur auf, Frederking, sonst schlagt Ihr Euch einen Knoten in die Zunge.» Herrmanns lächelte nachsichtig, als der Schneider nur mit verschmitzt wissender Miene dienerte. Er war nicht der Erste, der ihm neuerdings auf diese Weise schmeichelte, wofür er natürlich völlig unempfänglich war. Nun ja, vielleicht nicht völlig, aber als ein Mann seines Alters und seiner Erfahrung hatte man sich doch gegen solches Blendwerk im Griff.
    «Das mit dem Tisch der Ratsherren vergesst besser», ermahnte er den Schneider. «Das ist nur ein Gerücht. Im Übrigen – Senator Lohbrügg lebt noch, und das hoffentlich recht lange.» Er streifte die Weste ab und schlüpfte in den zur ersten Anprobe noch ärmellos zusammengehefteten Rock. «Findet Ihr nicht, hier in der Taille sollte er etwas enger sein?»
    Frederkings Finger ertasteten rasch, dass da nichts zu weit war. «Tatsächlich», sagte er, «ein oder zwei Zoll sollten noch einbehalten werden. Hast du das notiert?», fragte er und blickte flüchtig zu dem zwölfjährigen Lehrjungen, der still neben der Tür stand, stets auf dem Sprung, etwas anzureichen, einzupacken oder zu notieren, was sein Lehrherr, zugleich sein Vater, ihm diktierte.
    «Kompliment, Monsieur», wandte der Schneider sich wieder an seinen Kunden, «noch exakt dieselben Maße wie vor fünf Jahren.» Das stimmt nicht ganz, gefiel den Herren wie den Damen aber immer so gut. Warum ihnen diese kleine Freude vorenthalten, wenn sie ihn und seine Kunst dafür umso mehr schätzten? Es würde auch nicht günstig sein, die geforderten Zoll einzubehalten, im Gegenteil würde er noch ein wenig aus der Naht zugeben müssen. Kein Grund, das zu erwähnen, Hauptsache, der Rock saß später gut und bequem. Keinesfalls zu eng.
    Er warf seinem Sohn Messband und Kreide zu, steckte die letzten Nadeln am eigenen schwarzseidenen Ärmelaufschlag fest und half Claes Herrmanns behutsam, damit die Heftnähte sich nicht lösten, aus dem Gebilde, das einmal ein vornehmer Seidenrock sein würde, als schwungvoll die Tür geöffnet wurde.
    «Bist du hier, Claes? Betty sagte – oh, ich wusste nicht, dass heute Anprobe ist. Nein, ich gestehe, ich hatte es vergessen. Hat man Euch bewirtet, Meister Frederking?»
    «Danke ergebenst, Madam, alles war bestens, wirklich alles. Wie immer in Eurem bestens geordneten Haushalt. Wir hätten gerne Eure Meinung gehört, gerade haben wir die Anprobe beendet, wenn es beliebt, und Monsieur einverstanden ist, können wir noch einmal …»
    «Danke, das ist nicht nötig.» Anne Herrmanns garnierte ihr entschiedenes Abwinken mit einem verbindlichen Lächeln. Man sollte einen Schneider so wenig verärgern wie die Köchin, beides führte unweigerlich zu überflüssigen Verdrießlichkeiten, die Anne Herrmanns als praktische Person vermied. «Eure Zeit ist kostbar, und Monsieur Herrmanns hat einen ausgezeichneten Geschmack. Ich fürchte, einen besseren als ich.»
    Frederking war völlig ihrer Meinung. Er nähte nun schon etliche Jahre für die Herrmanns, Maße, Skizzen und Stoffreste für Ausbesserungsarbeiten aller bisher angefertigten Kleidungsstücke lagen wohlverwahrt in dem großen Schrank in seiner Schneiderei. Er arbeitete lieber für die Herren der Familie, und natürlich für Madam Augusta Kjellerup, die Tante

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