Die Nacht des Schierlings
roter Bordeaux konnte nicht wirklich helfen, aber er machte Herz und Zunge leichter. Solange er Rosina kannte, und das waren nun gut acht Jahre, kannte er auch Muto, wusste er um die tiefen, beinahe geschwisterlichen Gefühle, die die beiden verbanden. Ihm war der Junge stets ein bisschen unheimlich erschienen. Die wachsamen Augen des Kindes, jetzt des jungen Mannes, passten in seiner Vorstellung nicht zu einem Stummen. Er hätte das vor Rosina nie erwähnt, er wusste, wie zornig sie werden konnte, wie sie sich stellvertretend für Muto gekränkt fühlte, weil der für dumm oder gar schwachsinnig gehalten wurde.
Wagner wusste ebenso gut, dass der junge Akrobat weder das eine noch das andere war. Muto konnte schreiben und lesen, auch rechnen, er war ein waches und zumeist fröhliches Kind gewesen. Dass sich Letzteres mit dem Erwachsenwerden zusehends verlor, verstand sich unter seinen Lebensumständen von selbst. Wobei Wagner, der nicht zu langen Grübeleien neigte, in den letzten Tagen wieder überlegt hatte, warum in drei Teufels Namen Muto das Sprechen nicht einfach wieder übte. Das würde ihm zumindest das Stigma des Tölpels nehmen. Zu irgendetwas musste es ihm nützlich sein, Wagner hätte gerne gewusst, wozu.
«Muto war die ganze Nacht in seinem Zimmer», erklärte er und sah Rosina dabei an. «Etwa seit es halb zehn geschlagen hatte, bis zum Morgen. Das sagt Titus, der teilt mit ihm das Zimmer bei der Krögerin.»
Rosinas starre Miene veränderte sich kaum. « Bezeugt Titus», betonte sie dennoch im bemüht leichten Ton, «das ist gut. Sonst kommt Ihr noch auf Gedanken, lieber Wagner, auf sehr dumme Gedanken.»
«Nein, Rosina, keine dummen Gedanken. Das wisst Ihr so gut wie ich.» Wagner war nun ganz ruhig. Er war es leid, um den heißen Brei herumzureden. «Viele in der Stadt sind stark genug, einen Mann, besonders einen ohnedies Schwankenden, über so ein Geländer zu schieben. Aber Muto hatte Streit mit Hofmann, sogar eine Schlägerei, ein paar Tage bevor der im Schlick starb. Es ging um ein verlorenes Kartenspiel, aber vor allem wohl um dieses Mädchen, die Neue bei den Beckers. Ich habe den Namen vergessen.»
«Sie nennt sich Florinde», erinnerte Rosina knapp.
Wagner wurde wieder wachsam. «Nennt sich? Warum? Wie ist ihr richtiger Name?»
Nun lächelte Rosina endlich. «Nur keine Aufregung, Wagner, Ihr kennt doch uns Bühnenvolk. Wir brauchen immer Flitter und Schminke, Tamburine, Schellen und – klingende Namen. Wer keinen hat, gibt sich selbst einen. Sie heißt Berta, den Familiennamen weiß ich nicht. Jean und Helena kennen ihn sicher. Bei den Fahrenden wird nicht viel nach der Vergangenheit gefragt, nach dem Namen schon. Ohne Passpapier kommt unterwegs niemand durch die vielen Zollstationen, von den ständigen Kontrollen durch Soldaten, Büttel und Amtsschreiber in den Dörfern und Städten gar nicht erst zu reden. Wenn das Papier echt ist», sagte sie mit unschuldigem Blick, «ist auch der Name darauf echt.»
Wagner verzichtete darauf, das Thema zu vertiefen. Falsche Namen, falsche Passpapiere – für einen Weddemeister war das kein Spaß. Dass Mutos Name in keinem Taufregister zu finden war, sondern Ergebnis von Jean Beckers Phantasie, wusste er längst. Aber das war etwas anderes. Der Junge war ein Findelkind, er erinnerte sich nicht daran, wer er war und woher er kam. Was sollte man da tun, als einen neuen Namen zu erfinden und vor irgendeinem Amt als den richtigen zu bezeugen?
«Vielleicht war es ganz anders», warf Magnus in die Stille. Er verfügte über die seltene Fähigkeit, einem Gespräch zu folgen, mit- und weiterzudenken und sich erst einzumischen, wenn er einen neuen Gedanken hatte. «Wie wäre es mit dieser Version: Hofmann ist ins Fleet gefallen – jetzt mal einerlei, ob jemand dabei war oder erst dazukam. Er ist also gefallen, lag da unten wie ein Fisch auf dem Trockenen, zu benebelt, um zu wissen, wo oben und unten ist. Ein Kumpan oder ein Passant, wer auch immer, hat die Stange von der Winde genommen und versucht, ihn hochzuziehen, das ist aber missglückt. Vielleicht, weil er selbst sturzbetrunken war, da kann man schon mal ziehen und drücken verwechseln. Oder? Jedenfalls wenn man sehr betrunken ist. Als er dann sah, dass sein Rettungsversuch misslungen war, dass er den armen Teufel da unten im Morast gar umgebracht hatte, hat er Angst bekommen und ist davongerannt.» Er sah Rosina an, sah Wagner an und grinste. «Ich merke schon: Diese Variante gefällt euch nicht.
Weitere Kostenlose Bücher