Die Nacht des Schierlings
Aber möglich ist sie. Theoretisch.»
«Sehr theoretisch», murmelte Rosina, Wagner schnaufte nur. Er hielt inzwischen große Stücke auf Magnus Vinstedt, zweifellos war er auch bei den diskreten diplomatischen Missionen hilfreich, die er hin und wieder für den Rat oder die Commerzdeputation ausführte. In Sachen Mord und andere Verbrechen war er ein Anfänger.
E s war ein schrecklicher Tag gewesen. Sie hatten mit etlichen anderen Wagen, Fuhrwerken, Kutschen und einigem Fußvolk vor dem Schlagbaum gewartet, bis das Steintor bei Sonnenaufgang endlich geöffnet wurde, und Glück gehabt. Die Wachsoldaten erkannten sie, sahen den Sarg – jeder in der Stadt wusste inzwischen um diesen Tod – und hatten sie gleich passieren lassen. Draußen vor dem Tor war das Gedränge stärker gewesen, wie immer am Morgen wollten viel mehr in die Stadt herein als aus ihr hinaus.
Molly mochte jetzt nicht an die Beerdigung denken, dieses schmucklose, schlichte Begräbnis, als Trauergäste nur ihre Mutter, Ludwig und sie selbst. Elwa hatte gemurmelt, sie bleibe besser mit Sven hier in der Stadt, es sei genug zu tun und einer müsse sich um die Feuer kümmern, die dürften nicht ausgehen, bald müsse ja wieder gebacken werden. Magda Hofmann hatte genickt, und es war entschieden gewesen. Zu Svens Kummer. Ein Ausflug hinaus aus der Stadt und über Land bis nach Bergedorf, dazu an einem trockenen Tag, war ein äußerst seltenes Vergnügen, auf das er sich trotz des traurigen Anlasses mächtig gefreut hatte.
Der Pastor, ein kluger, altbackene Vorschriften nur so weit als unbedingt nötig beachtender Mann, hatte es ihnen leichtgemacht und am Grab ganz am Rande des Friedhofs bei der Kirche St. Petri und Pauli gute Worte gefunden. Seine Frau hatte inzwischen im Pfarrhaus einen kleinen Imbiss vorbereitet, eine unübliche Geste aus Mitgefühl und echter Nächstenliebe. Magda Hofmann hatte sich davon bewegt gezeigt, aber nichts essen können. Nur mit Mühe hatte Molly sie dazu gebracht, wenigstens von dem heißen, süßen Tee zu trinken.
Für die lange Rückfahrt hatte sie sich zu Ludwig auf den Bock gesetzt; ihrer Mutter, deren Blässe und leblos blickende Augen vermuten ließen, sie werde die Fahrt sitzend kaum überstehen, hatten sie ein bequemes Lager auf dem Wagen gemacht. Magda Hofmann hatte sich nach anfänglichem Zögern wortlos gefügt, und erst als Molly sich auf der Landstraße wieder einmal nach ihr umsah, zutiefst besorgt, ihre Mutter könne einfach aufhören zu atmen, ihrem Herzen befehlen, stillzustehen, erst da fiel ihr ein, dass sie nun genau dort gebettet war, wo zuvor der Sarg seinen Platz gehabt hatte.
Endlich schwammen auch Mollys Augen in Tränen, immer noch nicht um Bruno Hofmann, nur um die zutiefst verstörte Frau hinter ihr auf dem Wagen, wegen der Zäsur, die dieser Tod für deren Leben bedeutete. Da hatte sie auch verstanden, warum sie sich nicht einfach zu ihrer Mutter gesetzt, ihre Hand gehalten und über sie gewacht hatte, während Ludwig, der stets Zuverlässige, sie heimwärts kutschierte. Sie hatte es nicht gekonnt. Denn bei allem Mitgefühl und Schrecken war sie ihr zugleich gram. Magda Hofmann, damals Magda Runge, hatte nach dem Tod ihres ersten Mannes und Mollys Vater auch getrauert, sie hatten eine lange und gute Ehe geführt, sein Tod war ein Drama gewesen. Und doch – der Verlust Bruno Hofmanns ließ sie auf eine verzweifelte Weise trauern, die um vieles stärker erschien.
«Lass nur», hatte Ludwig leise gesagt, als Molly ihm doch noch zuflüsterte, ob man etwas tun müsse, bei ihr sitzen, mit oder ohne Worte Trost spenden. «Lass sie in Ruhe. Bis wir am Rödingsmarkt sind, ist sie wieder», er zuckte die Achseln und ließ leicht die Zügel auf das Hinterteil des Pferdes klatschen, «tja, ist sie wieder auf der Erde, will ich mal sagen. Sicher schon beim Tor durch die Landwehr. Sie lässt die Leute auf der Straße nichts sehn», wieder stockte er, bevor er entschiedener fortfuhr: «Die soll’n eben nicht sehen, wie’s ihr geht. Sie ist ’ne stolze Frau, deine Mutter. Immer schon gewesen.»
Molly hatte Ludwig verdutzt angesehen. Wie Elwa gehörte er zu ihrem Leben, schon immer in der Rolle des treuen Gesellen. Zum ersten Mal hörte sie, dass er eine Meinung zu ihrer Mutter hatte.
Wie dumm, dachte sie nun, als sie sich später am Abend an den Tisch in der Backstube setzte. Sie wickelte das heruntergerutschte Stricktuch wieder fest um ihren Körper. Wie dumm von mir. Natürlich hatte Ludwig
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