Die Nacht des Schierlings
eine Meinung zu ihrer Mutter, auch zu ihr. Und zu Hofmann. Welche mochte er zu ihrem Vater gehabt haben? Die beiden hatten sich immer gut verstanden, fast immer. Zuletzt hatte es hin und wieder Missstimmungen gegeben, aber das war bedeutungslos gewesen.
Sie hatte nie darauf geachtet. Jeder im Haus hatte seine Stellung und seine Aufgaben, wie überall. Es war zu selbstverständlich gewesen, um einen Gedanken daran zu verschwenden. Bis ihr Vater starb. Bis der neue Meister seinen Platz einnahm und alles sich änderte. Über dieser großen Veränderung hatte sie die kleinen, feinen Änderungen im Alltag erst nach und nach wahrgenommen.
Es war viel geschehen in den letzten beiden Jahren, sie hatte viel gelernt, auch was Einsamkeit bedeutet und dass die nicht in der Fremde am schmerzlichsten ist, sondern dort, wo man zu Hause ist. Wo es sie nicht geben dürfte. Es hieß, viel zu lernen, klüger zu werden, die Welt zu erkennen sei gut. Vielleicht geschah das noch, das Erkennen. Bisher hatte alles nur ihre Seelenruhe gekostet und neue Fragen aufgeworfen.
Selbst heute, am Tag dieses beunruhigenden Begräbnisses. Elwa hatte sie bei ihrer Rückkehr mit einem guten Essen erwartet, einer würzigen Brühe mit kleinen Graupen, Petersilienwurzeln und Sellerie, sie hatte ein Hühnchen auf dem Rost gebraten und eine von Magda Hofmanns liebsten Saucen gekocht, nämlich von Sardellen in Butter und etwas Mehl, mit Zitronenscheiben, Petersilie, frischem Zwiebellauch, Pfeffer und viel Salz. Zum Dessert hatte sie einen kleinen Teller von verschiedenen Sorten Konfekt direkt aus der Backstube auf den Tisch gestellt. Nun hatte auch die Meisterin ein wenig gegessen und sogar wie die anderen von dem Krug frischen Bieres getrunken, für das Elwa den Lehrjungen zum Bremer Schlüssel geschickt hatte. Es war wirklich ein Festessen. Wie es sich gehört, hatte die Magd gemurmelt, wenigstens für die Familie, wenn schon keine Trauergemeinde geladen sei. Dem Toten zu Ehren, hatte sie noch hinzugefügt. Da hatte Magda Hofmann zum ersten Mal wieder den Anflug eines Lächelns gezeigt. Niemand kannte Elwa besser als sie.
Die guten Speisen mussten sie an Leib und Seele gestärkt haben, sonst hätte sie kaum am Ende dieses kräftezehrenden Tages noch Besuch empfangen. Molly hatte am Morgen ein Schild in die Tür gehängt, das jedem, der lesen konnte, bekannt gab, heute sei geschlossen. Als es beharrlich klopfte, dachte sie, es sei eine Nachbarin, eine Freundin vielleicht, die am Ende dieses schweren Tages doch noch nach dem Rechten sehen oder ihren Beistand anbieten wollte. Vor der Tür stand jedoch Momme Drifting, der Geselle des Apothekers beim Opernhof, in der Hand eine kleine Schachtel mit einer hübschen Schleife, ganz ähnlich denen, die sie selbst für das feine Konfekt benutzte.
Er errötete, als sie die Tür öffnete, was sie gleich versöhnlich stimmte. Nicht, dass sie einen Grimm gegen ihn gehabt hätte, warum auch?, er war ihr stets ungemein zuvorkommend begegnet. Aber an einem solchen Abend sollte man einer Familie Ruhe gewähren. Seinen Kondolenzbesuch hatte er schon früher gemacht, bei der Gelegenheit auch die tief bedauernden Grüße des Apothekers ausgerichtet, Meister Leubold wolle das Trauerhaus nicht mit seiner Gegenwart belästigen. Magda Hofmann hatte die seltsame Botschaft überhört und Drifting gerne und allein empfangen, denn – so hatte sie danach betont – er war einer der Freunde ihres Gatten gewesen.
Molly hatte sich nie dafür interessiert, woher die beiden sich gekannt hatten. Womöglich von früher? Wahrscheinlicher tatsächlich nur von den Spielrunden im Bremer Schlüssel . Oder von einer anderen Begegnung irgendwo in der Stadt, beim Gewürzkrämer, am Hafen, direkt in der Apotheke – eine Zeitlang hatte Hofmann dort das für einige Sorten Konfekt unverzichtbare Rosenwasser gekauft. Es war von guter Qualität gewesen, trotzdem hatte er bald einem anderen Lieferanten den Vorzug vor Leubold gegeben.
Sicher wusste Momme Drifting nicht, dass heute die Beerdigung gewesen war, dazu sehr weit vor den Toren. Zumindest hierin irrte Molly. Momme wusste es – wie die halbe Stadt.
«Ich muss mich entschuldigen, Jungfer Molly», erklärte er, in seinen Augen stand echte Beunruhigung, «wirklich entschuldigen. Ihr hattet heute einen schweren Tag, und es ist nicht schicklich, Euch noch zu behelligen. Aber ich habe ein kleines Präsent für die Meisterin. Als ich zuerst hier war, mein Beileid zu bekunden, hatte ich es
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