Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Nacht des Schierlings

Die Nacht des Schierlings

Titel: Die Nacht des Schierlings Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Petra Oelker
Vom Netzwerk:
Zeit in der Stadt zu bleiben, überhaupt an einem Ort. Natürlich blieb eine Theatergesellschaft gern für einige Wochen, sogar Monate an einem Ort, wenn die Geschäfte gutgingen. Viele träumten von dauernder Sesshaftigkeit. Aber anders als Rosina, die als behütete Tochter einer vornehmen und wohlhabenden Familie aufgewachsen und sich mit ihrer Heirat nur dem eigentlich für sie bestimmten Leben wieder genähert hatte, wurden die meisten Fahrenden bei aller Sehnsucht danach unruhig, wenn sie ihre Pferde endgültig für einen sicheren, gleichmäßigen Alltag ausspannen sollten. Titus gehörte zweifellos dazu. Sicherheit gebe es im Leben nicht, so hatte er früher oft gesagt. Nur Gott wisse, was im nächsten Moment oder im nächsten Jahr passiere, und tatsächlich glaube er, nicht einmal der Herr sei so gründlich unterrichtet, das könne er gar nicht, dazu gebe es einfach zu viele Menschen.
    «Es geht um Muto, klar», sagte er nun auch mit gedämpfter Stimme und einem rasch kreisenden Blick auf der Suche nach Lauschern. «Der ist ein eigenwilliger junger Kerl, da kann man nix machen. Ab und zu auf ihn aufpassen, viel mehr geht nicht.»
    «Was willst du tun, Titus?», fragte Helena schroff. «Immer hinter ihm herlaufen? Da wird er sich bedanken. Außerdem hast du keine Zeit, die Kinderfrau zu spielen. Er ist erwachsen, er muss auf sich selbst aufpassen.»
    «Stimmt schon.» Titus sah einer Krähe nach, die mit irgendetwas Klebrigem im Schnabel aufflog und hinter den Bäumen verschwand. «Er muss auf sich selbst achten, alles andere wird er sich verbitten. Es kann aber nicht schaden, ab und zu in seiner Nähe zu sein, besonders in diesen Tagen. Spätestens morgen geistert das Gerücht durch die Stadt, der stumme Akrobat hat sich mit dem Konfektbäcker geschlagen, und jetzt ist der brave, der überaus ehrbare Konfektbäcker tot. Besser, Muto ist zumindest im Dunkeln nicht allein.»
    Gesine ließ endlich ihre Näharbeit sinken und blickte Titus dankbar an. Anders als Rosina und Helena hatte sie Kinder. Manon, von der alle befürchtet hatten, sie werde zur leichtfertigsten unter den Komödiantinnen heranwachsen, hatte sich zur allgemeinen Überraschung brav verheiratet und war – wie es Gesine leider nicht ganz zu Recht empfand – in Sicherheit. Von Fritz hatten sie erwartet, er werde den Weg in ein bürgerliches Leben finden, er wollte jedoch unbedingt bei den Fahrenden bleiben, jedenfalls beim Bühnenvolk. Wie Muto war er nun in diesem Alter, das man als das gefährlichste im Leben eines Mannes ansehen musste, wenn also Titus auf diese Weise für Muto sprach, galt das ebenso für ihren Sohn.
    «Seit Muto so groß und ansehnlich geworden ist», sagte sie und fädelte schon wieder einen neuen Faden ein, «hat er etwas an sich, was Frauen mögen und Männer übel reizt. Das Schlimme dabei ist, er weiß es gar nicht. So ist das mit einem, der keine Eitelkeit kennt, aber leicht zu kränken ist. Alles nicht so einfach. Der arme Junge hat schon viel erlebt und doch noch wenig Ahnung vom Leben und den Menschen.»
    Dazu gab es nichts weiter zu sagen, also schwiegen alle vier. Bevor die Stille drückend wurde, besann Titus sich auf seine Rolle.
    «Da sorgt man sich», begann er, «jaja. Aber bei Licht besehen», er wedelte mit den Händen und rollte die Augen in Richtung Himmel, «ist der Fall ja längst gelöst. Was, ihr habt die Geschichte noch nicht gehört? Ist doch ganz klar, es war mal wieder die bleiche Mutter vom Bleichenfleet. Sie geht wieder um, wie immer in den Nächten um Neumond. Jetzt hört mal zu. Ich hab die Geschichte von Servatius, und der Knopfmacher ist ein Neunundneunzigmalkluger, der kennt sich aus. Wie wir alle wissen! Sogar mit Gespenstern.»
    Ganz nahe an der Stelle, wo der Konfektbäcker sein bedauerliches Ende gefunden hatte, so berichtete Titus, gehe das Gespenst um. Wer seinen Verstand beisammenhabe, meide die Gegend in diesen Nächten. Es sei das Gespenst einer Mutter, die habe vor langer Zeit ihre allzu schöne Tochter auf ein Fest geschickt, das auf einem vornehmen, im Hafen liegenden Schiff gegeben wurde. Wahrscheinlich hoffte sie, ihre Tochter werde dort einen reichen Bräutigam finden. Auf dem Höhepunkt der ausgelassenen Festivität wurde auf Deck ein Feuerwerk gegeben, Böller dazu, ein Funke verirrte sich in die Pulverkammer – rumsbums flog das ganze Schiff in die Luft, mit allen, die darauf feierten.
    «Keiner überlebte, auch die schöne Tochter nicht, ganz klar. So heult und jammert

Weitere Kostenlose Bücher