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Die Nacht des Schierlings

Die Nacht des Schierlings

Titel: Die Nacht des Schierlings Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Petra Oelker
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und stöhnt die von ihrem Kummer und schlechten Gewissen gehetzte Mutter als Wiedergängerin durch die Nacht, auch das Klappern ihrer Pantoffeln auf der Brücke hat schon mancher gehört, andere haben sie sogar gesehen, natürlich zumeist um Mitternacht herum, vom Scheitel bis zu den Zehen schwarz verschleiert. Wenn nun ein Tunichtgut ihren Weg kreuzt», schloss Titus, ließ die Augen wieder rollen und blähte die Nasenflügel, «vor allem einer von der Sorte, die unschuldige Mädchen verführen, schubst sie den Kerl ins Wasser. Auf Nimmerwiedersehen. Na gut, wenn gerade Ebbe ist, eben in den Schlick.»
    Titus hatte sich redlich bemüht, die drei Frauen mit einer hübschen kleinen Vorstellung aufzuheitern, es war nur halbwegs gelungen. Rosina erhob sich bald und verabschiedete sich. Sie werde bei Matti und Lies auf dem Hamburger Berg erwartet und sei schon spät dran. Alle trugen ihr Grüße auf, Lies, die knurrige alte Lies, hatte zur Becker’schen Gesellschaft gehört, bis sie für die alten Jahre zu ihrer spät wiedergefundenen Freundin Matti gezogen war. Das Haus der alten Hebamme war eine kleine Idylle jenseits des Millerntores nahe dem Fahrweg nach Altona, der Garten eine blühende Apotheke der Natur. Seit dem letzten Jahr belieferte Matti Apotheker Leubold beim Opernhof ebenso mit dem, was in ihrem Garten wuchs, wie mit ihrer bescheidenen Ernte von der weiten, noch wenig bebauten und bewohnten Fläche zwischen dem großen Hamburg und dem kleineren Altona. Rosinas Hilfe beim Sortieren, Bündeln und Trocknen der Pflanzen, Samen oder Wurzeln war stets willkommen. Tatsächlich wurde sie heute nicht erwartet, doch ihr Herz war voller Unruhe, und die beste Weise, es zu beruhigen, war ein rascher Gang über die weite Fläche mit dem freien Blick über den Fluss und seine Inseln bis nach der alten Feste Harburg an der Süderelbe und dem sich dahinter erstreckenden Hügelland.
    «Morgen ist Probe», rief Helena ihr nach, «um halb zehn. Kommst du? Wir brauchen dich. Deinen Rat und dein Urteil. Zumindest kannst du soufflieren.»
    Rosina nickte und winkte ihr über die Schulter zu, ohne sich noch einmal umzudrehen.
    Dann schritt sie kräftig aus. Soufflieren. Ein deprimierendes Wort für eine, die noch vor kurzer Zeit die Erste Ballerina, die junge Liebhaberin und die kühnste Sängerin gegeben hatte.
    Am Millerntor herrschte wie immer Gedränge. Sie hatte Glück, die Soldaten ließen sie ohne große Präliminarien passieren. Womöglich kannte sie einer der Männer. Sie ging oft durch dieses Tor, und für mehr Leute, als sie wusste, war sie ein bekanntes Gesicht der Stadt. Als ehemalige Komödiantin, die mit den so reichen wie honorigen Herrmanns befreundet und dazu von einem Bürger geheiratet worden war, als diese seltsame Person, die immer wieder dem Weddemeister ins Handwerk pfuschte, ohne dass sie deshalb je am Pranger gelandet wäre.
    In Höhe der langen, überdachten Reeperbahnen zwischen ihren Baumreihen verließ sie so rasch wie möglich den von Reitern, Fuhrwerken und Fußgängern stark frequentierten Fahrweg und lief auf dem durch die Wiesen und nahe dem Hochufer der Elbe entlangführenden Pfad weiter. Als suche ihr Geist nun nach etwas ganz Neuem, nach etwas, das sie von Muto und dem toten Konfektbäcker ablenkte, erinnerte sie sich plötzlich an eine andere Geschichte, die sie vergessen hatte, ohne sie zu Ende zu bringen. Es war etwas gewesen, das sie Matti schon längst hatte fragen wollen. Warum fiel ihr das gerade jetzt ein? Gerade heute? Als alte Hebamme und eine der Besten ihres Fachs kannte Matti mehr Familiengeschichten als sonst jemand in der Stadt. Zudem stand ihr Haus wohl auf Hamburger Gebiet, aber genauso nah an Altona wie an der Alsterstadt.
    Just als sie darüber nachdachte, als sie sich zu erinnern versuchte, hörte sie ihren Namen rufen. Sie blickte sich um und entdeckte Magnus, er folgte ihr mit langen Schritten. Ihr Herz machte einen freudigen Satz, und alles, was trübe, auch alles, was ungelöst gewesen war, verschwand in der dunklen, für vage Erinnerungen reservierten Ecke ihres Kopfes.
     
    F alls Elwa den Weddemeister brüskieren wollte, als sie ihn anstatt in die gute Stube an den großen Tisch in der Küche führte, wurde sie enttäuscht. In guten Stuben fühlte Wagner sich fast so unbehaglich wie in den Besucherzimmern oder Salons der großen Häuser. Die ungewohnte Umgebung besonders in Letzteren schüchterte ihn zwar nicht mehr so ein wie in seinen Anfangsjahren, es konnte sogar

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