Die Nacht des Schierlings
Vormittagslicht und lehnte sich an die Wand des Dragonerstalls zurück. Das Fachwerk hinter der alten Sitzbank war warm, obwohl die Sonne zu dieser Zeit des Jahres nur noch wenig Kraft hatte. Heute gab sie sich noch einmal besondere Mühe und schickte ihre Strahlen durch das sich verfärbende Laub der Linden. Sein goldener Glanz ließ vergessen, wie eilig der November nahte, um der Welt die Farben zu stehlen. Sie zog das Tuch von den Schultern, spürte die sanfte Wärme auf Gesicht, Hals und Dekolleté und schloss wohlig die Augen.
Auch die Geräusche und Gerüche verrieten, was um sie herum geschah: Das Schnauben und Scharren verriet die Pferde in dem Teil des Gebäudes, der noch ein Stall der Dragoner war, das Knarren des Pumpenschwengels, dass einer der Pferdejungen die Tiere tränkte. Dazu das leicht zu unterscheidende Gequietsche und Geratter von schweren Fuhrwerken, von Kaleschen, geschobenen Karren – jetzt rollte ein leichtes Kabriolett vorbei, so eines, wie es Anne Herrmanns besaß. Ein Schwarm Möwen hatte sich vom Hafen oder der Alster herverirrt und kreiste schrill lärmend auf der stetigen Suche nach Futter über dem Platz.
Dazu die Stimmen der Menschen, zwei Hunde flitzten mit fröhlichem Gebell vorbei, der Klang der Hufe von leichten Reitpferden und schweren Zugtieren, auch Ochsen stampften dabei – es war hoher Vormittag auf dem Platz um den Dragonerstall und der stark frequentierten Straße entlang dem Festungswall zwischen Millern- und Dammtor. Nur das Geschrei der Jungen fehlte, das sie oft hier gehört hatte, die Kinder kamen wohl erst am Nachmittag, noch war Unterrichtszeit. Und die vielen, die schon harter Arbeit nachgingen, klangen nicht mehr wie Jungen, man hörte sie an einem gewöhnlichen Wochentag auch nicht herumtollen.
Wie oft hatten sie hier zusammengesessen? Und wie lange war es her? Gestern? Wohl zwei Jahre. Es müsste ein vertrautes Gefühl sein, dennoch war es zuerst seltsam gewesen, wieder mit den Komödianten hier zu sitzen. Sie wusste nicht so recht, warum. Oder sie wollte es nicht wissen. Es war, wie es war, wenn sie nach der richtigen Weise des Verhaltens suchte, musste es misslingen. Besonders Helena hatte das allerfeinste Gespür für falsche und künstliche Töne. Leider so fein, dass sie die manchmal hörte, wo sie gar nicht waren. Aber darüber konnte man reden, und Helena war so ohne Falsch, dass jede Empfindung in ihrem Gesicht zu lesen war wie in einem Buch. Da waren in diesen Tagen viele Empfindungen. Manchmal auch einander widersprechende.
Heute war die Stimmung endlich leicht, sie waren auf einem guten Weg zueinander. Wenn das Publikum zu schätzen wusste, was ihm im Kleinen Komödienhaus im Dragonerstall geboten wurde, konnte die ganze Becker’sche Gesellschaft bleiben. Wenn sie es wollte. Warum nicht? Zwischendurch konnte sie immer mal für einige Wochen zu Gastspielen in andere Städte reisen, nach Lüneburg, vielleicht Kiel, Eutin, Hannover gar. So wie es auch die Gesellschaft vom großen Theater im Opernhof machte. Im Sommer am besten, wenn die Straßen zwar staubig waren, dafür keine Gefahr bestand, beim Marsch durch Schnee und Eis die Zehen durch Frost zu verlieren, wie es manchen wandernden Komödianten widerfahren war. Ein befremdlich watschelnder Gang als Beweis abgefrorener Zehen verriet manchen alten Komödianten.
«Es ist freundlich von Magnus, dass er Jean begleitet», hörte sie Helenas Stimme von rechts, und Gesine ergänzte von links: «Das erspart uns sicher Ärger.»
«Es kostet ihn keine Mühe, und er macht es gern», versicherte Rosina. «Er findet es einfach großartig, dass ihr hier seid und wir gemeinsam das Komödienhaus in Schwung bringen. Natürlich kennt Jean sich mit den Genehmigungen und Bestimmungen aus, erst recht mit den nötigen Kratzfüßen, aber hier weiß Magnus nun mal besser Bescheid. Außerdem kennt man ihn im Rathaus, das wird es auch leichter machen.»
Die Arbeiten an der Bühne waren weit fortgeschritten, auch die Proben, wobei Jean fand, allzu viele Proben würden nur der Frische des Spiels schaden. Es war höchste Zeit gewesen, die Spielgenehmigungen einzuholen und die Abgaben zu leisten, die jede Gesellschaft auswärtiger Komödianten, Operisten, Akrobaten, Puppenspieler oder wer auch immer eine Vorstellung zum Vergnügen der Menschen geben wollte, zu zahlen hatte.
«Aber dass es ihm nicht unangenehm ist, unseren Prinzipal zu begleiten», überlegte Gesine laut, den Kopf tief über ihre Näharbeit gebeugt,
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